Wertarbeit mit Frustbeilage

In einem neuen Buch gibt ein Forscher­kollektiv um Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachwey den Opfern unserer Klassengesellschaft das Wort

In der Pandemie waren sie sichtbarer als sonst: die ungesichertesten und verwundbarsten Ar­bei­te­r:in­nen Foto: Michael Gstettenbauer/imago

Von Robert Misik

Work hard, have fun, make history“ steht über dem Eingang zum Innenbereich der Amazon-Versandfabrik. Meetings einzelner Arbeiterkolonnen – „Teams“ – enden mit Abklatschen und Parolen wie bei Sportmannschaften, die sich gegenseitig anfeuern und vor dem Wettbewerb noch ordentlich das Adrenalin hochfahren, „alle die Hände nach oben“, wie ein Beschäftigter erzählt. Manche machen einfach so mit, weil es erwartet wird, andere „finden das witzig und lustig“.

Nicole Mayer-­Ahu­ja und Oliver Nachtwey haben in ihrem Buch „Verkannte Leistungsträger:innen“ mit einem ForscherInnenteam Berichte „aus der Klassengesellschaft“ gesammelt. Dabei denken wir instinktiv wohl an die Pandemie, an diese Wochen, als „systemrelevante Arbeiterinnen und Arbeiter“ den Produktions- und Vertriebskreislauf am Laufen hielten, während andere sich in ihre Homeoffices zurückziehen konnten. In diesen Monaten wurden diese oft verwundbarsten Beschäftigten aber eigentlich nur eine Spur sichtbarer. Denn diese Realität ist ja immer da, ob Seuche oder nicht.

Zu Wort kommen Beschäftigte aus der Pflege, den Kitas, den Spitälern, Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Fleischproduktion, der Landwirtschaft, bei Amazon, bei der Gig- und Plattformökonomie wie den florierenden Lieferdiensten. Sie alle geben Einblicke in ihre Arbeits- und Lebenssituationen, in Umstände, die fast immer geprägt sind von: Stress, Prekarität, geringem Einkommen, Kommandiertwerden und wenig Anerkennung.

Oliver Nachtwey und Nicole Mayer-Ahuja (Hg.): „Ver­kannte Leistungs­träger:innen. Berichte aus der Klassen­gesell­schaft“. Suhrkamp, Berlin 2021, 567 Seiten, 22 Euro

Dabei beschreiben sie nicht nur die äußeren, materiellen Umstände ihres Lebens, sondern gewissermaßen auch die inneren: die Verletzungen, die sie erleben, die Hoffnungen, die sie haben, die Ansprüche an ihr Leben, denen diese Umstände oft nicht genügen können. Man erfährt nicht nur, was die Menschen tun, sondern zugleich, wie sie darüber denken und wie sie sich auflehnen. Bücher dieser Art sind ungeheuer wertvoll, und es gab in den vergangenen 25 Jahren einige dieser Art: „Das Elend der Welt“ von ­Pierre Bourdieu und seinen Stu­dien­gemeinschaften beispielsweise ist heute schon legendär.

Mayer-­Ahu­jas und Nachtweys Buch ist voller bemerkenswerter Entdeckungen, die man machen kann: etwa, dass die Arbeitskämpfe weiblicher wurden und in soziale Berufe Einzug hielten. Früher war die Erfahrung, dass Kita-Betreuerinnen, Menschen in der Pflege etc. nicht gut mobilisierbar sind, weil sie oft sehr dezentral arbeiten, der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig ist und es vor allem den „Prisoners of Love“-Effekt gäbe – die besondere emotionale Verpflichtung gegenüber den Kindern, den älteren Menschen, die auf die Pflege angewiesen sind, machte Streiks immer zu einem Grenzgang. Das hat sich verändert. Heute wird häufiger für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft, und zwar gerade auch im Interesse der Klientinnen und Klienten.

Nach mindestens 25 Jahren neoliberaler Globalisierung, EU-Öffnung und Zuwanderungsschüben ist die Organisation von Arbeit informeller und prekärer denn je, mit Mehr-Klassen-Gesellschaften auch bei den Beschäftigten. Sprachbar­rie­ren, unsicherer Aufenthaltsstatus machen verletzlicher, oft wehrlos, was Konzerne natürlich ausnutzen. Gesetzliche Mindestlöhne werden umgangen, indem man den Beschäftigten für Wohnraum oder Arbeitsinstrumente Geld abknöpft oder die Kosten an sie auslagert oder einfach Lohnraub betreibt.

Viele der Beschäftigten haben ein hohes Berufsethos, und sie leiden daran, wenn sie dem nicht gerecht werden können, wie der Arbeiter in einer der ausbeuterischen Fleischfabriken, der sich als Fleischfacharbeiter sieht, aber nur die Fabrik schrubben darf. Oder Frau S., die im Supermarkt arbeitet, eigentlich ein hohes Sinngefühl gegenüber ihrer Arbeit hat, aber frustriert sagt: „Es ist ein undankbarer Job.“ Sie ist stolz darauf, dass sie sich durchschlägt, täglich anpackt, und blickt auf jene herab, die es sich aus ihrer Sicht leichtmachen, seien das die jungen KollegInnen, die zu viel herumstehen, oder Leute, die von Hartz IV leben.

Bücher dieser Art sind ungeheuer wertvoll, es gab in den ver­gan­ge­nen 25 Jahren einige dieser Art: „Das Elend der Welt“ von Pierre Bourdieu ist heute schon legendär

Zu den Umständen von Arbeit gehören aber eben nicht nur die Tätigkeiten und die Härte von Arbeitsorganisation selbst, sondern eben auch der Stolz auf Fähigkeiten und der Sinn und der Status, den Menschen von ihrer Arbeit ableiten, und die Art, wie sie sich dann zu anderen ins Verhältnis setzen. Dazu gehört die Vorstellung eines „gerechten Lohns“ für „ordentliche Arbeit“.

Dieser Arbeitsstolz, schreiben Mayer-Ahuja und Nachtwey in ihrer Zusammenfassung, „verschwand zwar nie völlig, aber er war immer schwerer aufrechtzuerhalten“.