Die Virtuosität der Handgriffe

Die Welt der harten körperlichen Arbeit, wie das Entladen von gefrorenem Fisch im Hafen, beschäftigt die finnische Künstlerin Hulda Rós Guðnadóttir in einer Langzeituntersuchung. Ausschnitte davon zeigt die Galerie Gudmundsdottir

Hulda Rós Gudnadóttir in ihrer Installation „Werk – Labor Move“ im Reykjavik Art Museum 2021. Foto: Eythor Arnason / Reykjavik Art Museum.

Von Julia Gwendolyn Schneider

In der Galerie Gudmundsdottir stapeln sich weiße Kisten vom Boden bis zur Decke mit der Aufschrift: „Keep Frozen at -20°C or Below; Fresh Frozen at Sea“. Üblicherweise enthalten die Kisten 25 Kilogramm gefrorenen Fisch, der im Hafen von Reykjavík von Dockarbeitern eilig entladen wird. „WERK“, wie Hulda Rós Guðnadóttir die Ausstellung in Berlin nennt, ist die aktuelle Station ihrer künstlerischen Langzeituntersuchung „Keep Frozen“, die sich thematisch mit der Gentrifizierung von Häfen auseinandersetzt. Nun rückt Guðnadóttir die Transportkisten in den Fokus, die gewissermaßen zwei Welten repräsentieren: die globale industrielle Fischereiwirtschaft und den Materialismus der Kunstwelt.

In einer Reihe von Fotografien stapeln die Kisten sich treppenförmig oder wie ein Mauerwerk, aus dem in regelmäßigen Abständen einzelne Boxen hervorstehen. Der Eindruck ist architektonisch und minimalistisch. Die kleinste Fotografie zeigt eine isolierte Schachtel, die ein subtiles Detail erkennen lässt. „Werk – Labor Move, Studio Hulda Rós Guðnadóttir, Made in Lithuania“ steht in der rechten unteren Ecke. Anders als bei den Originalkisten rückt der globalisierte Herstellungsprozess der Kisten für die Kunst in den Fokus. Die Firma, die die Kisten vertreibt, ist so alt wie der Hafen in Reykjavík, über 100 Jahre, und beide sind von denselben gesellschaftlichen Veränderungen betroffen. „Die Kisten wurden früher in Island hergestellt, heute ist das nicht mehr profitabel.“

Zum ersten Mal tauchten die justierten Boxen in Guðnadóttirs Einzelausstellung „Werk – Labor Move“ auf, die im Frühjahr im Reykjavík Art Museum gezeigt wurde. Dort kleidete eine Installation aus 5.000 Kisten den Ausstellungsraum mit jenen Arrangements aus, die nun als Extrakte in den Fotoarbeiten zu sehen sind. Denn das Museum war das erste Gebäude im Hafen von Reykjavík, in dem die Nutzung der traditionellen Fischereiindustrie abgelöst wurde. Wo die Ausstellung stattfand, war früher ein Lagerraum, die Kistenstapel spielen darauf an. Guðnadóttir ging aber noch einen Schritt weiter und zeigte ein Video, in dem das Museumspersonal die Boxen zurechtfaltet und aufbaut – Arbeit, die meist unsichtbar bleibt.

Körperliche Arbeit und noch dazu welche, die häufig übersehen wird, bildet das Herzstück des „Keep Frozen“-Projekts, in dessen Zentrum ein Dokumentarfilm mit ebenjenem Titel steht. „In Island ist ein Fischer ein Held, aber es gibt kaum Geschichten über die Männer, die die Schiffe entladen.“ „Keep Frozen“ (2016) zeigt, wie eine Gruppe Hafenarbeiter mit körperlich extrem herausforderndem Einsatz Trawler entleert, in der Regel 20.000 Fischboxen von 25 bis 30 Kilo in 48 Stunden in einer Arbeitsumgebung von -35° C.

Seinen Anfang nahm alles mit einer vagen Idee, Guðnadóttir, die 1973 in Reykjavík geboren wurde und seit 2009 in Berlin lebt, hatte 2010 begonnen, sich mit den Veränderungen der Häfen in ihrem Heimatland zu beschäftigen. Sie bemerkte ein gesteigertes Interesse an deren Ästhetik. In der Nostalgie für industrielle Räume und andere Artefakte sieht sie einen Grund für die Gentrifizierung im Hafen von Reykjavík, die durch eine Aufhebung des Mietverbots für hafenfremde Unternehmen vorangetrieben wurde. Die Arbeit, die dort stattfindet, passt nicht in das romantische Bild; der Hafen scheint verlassen zu sein, dabei ist er weiterhin der größte Fischumschlagplatz des Landes.

Guðnadóttir wollte den verdrängte Aspekt hervorheben, sie hatte während ihres Kunststudiums vom Endladen der Schiffe gehört, einige ihrer Kommilitonen verdienten so ihr Geld. Später machte sie ein Künstler, der in einem kleinen Endladebetrieb seines Vaters arbeitete, mit den Werftarbeitern bekannt. In ihrem Film stellt Guðnadóttir die Teamarbeit in den Fokus, die persönlichen Geschichten, die im Voice­over erzählt werden, lassen sich nicht eindeutig einer Person zuordnen. „Ich wollte nicht, dass es um einen Protagonisten geht, aber ich wollte den Arbeitern trotzdem eine Stimme geben.“

In der Nostalgie für industrielle Räume und andere Artefakte sieht Hulda Rós Guðnadóttir einen Grund für die Gentrifizierung im Hafen von Reykjavík

Sie lässt den Zuschauer aus nächster Nähe an der Endladung der Boxen teilhaben, die Kälte und die Härte der repetitiven Tätigkeit werden unweigerlich spürbar. Die Männer müssen extrem achtsam sein, der kleinste Fehler, eine falsche Bewegung, könnte tödlich enden. Sie arbeiten ohne Vertrag und werden dafür bezahlt, wie schnell sie sind. Ihre eingespielten Handgriffe funktionieren wie eine synchronisierte Maschine. Die Virtuosität der Männer bringt etwas Ermächtigendes in ihrer Arbeit ans Licht.

In der Berliner Ausstellung wird der dokumentarische Film „Keep Frozen“ zum ersten Mal dem Video „Labor Move“ (2016) gegenübergestellt, einer Performance, die als Ode an die Meisterhaftigkeit der Hafenarbeiter verstanden werden kann. Die Männer führen ihre Arbeit wie eine choreografierte Tanperformance auf. Das rituelle Hin- und Herbewegen der schweren Kisten ist optimiert und zugespitzt. Interessanterweise beschreibt ein Mann in „Keep Frozen“ seine Arbeit tatsächlich als Tanz. Guðnadóttir, die vor der Kunst Anthropologie studierte, sieht in diesen Worten einen Brückenschlag, der es ermöglicht, zwischen der Welt der Arbeiter und dem Kunstpublikum zu vermitteln und so weniger voyeuristisch und eher emphatisch zu sein.

Doch wo steht die Künstlerin selbst? Im Laufe des Projekts bemerkte sie, wie stark ihre Untersuchung durch die eigene Biografie geprägt ist. Ihr Großvater hatte auf einer Werft gearbeitet, sie ist die Tochter eines Kleinindustriellen, der Plastikwannen für die Fischereiindustrie herstellte, aber sie stammt auch aus der ersten Generation, die zur Universität ging. Das reflektiert sie in der Fotoserie „Artist as a Worker“ (2014): Sie zog Hafenarbeiterkleidung an und verzog das Gesicht, als sie an die Saisonarbeit als junges Mädchen in der Fischfabrik zurückdachte. Auf einem anderen Bild tut sie so, als würde sie Kisten werfen, sie verschiebt die Rollen zwischen sich und den Dockarbeitern, jedoch bleibt es eine Geste. Die Künstlerin ist eine Beobachterin zwischen den Welten.

Hulda Rós Guðnadóttir, „WERK“, bis 23. 10. 2021, Gallery Gudmundsdottir, Showroom zurzeit in der Linienstraße 230 a. Bitte per E-Mail einen Termin vereinbaren: gg@gallerygudmundsdottir.com