Hartz IV und Ernährung: Strauchtomaten als Luxusgut

Der Sozialverband VDK warnt: Obst und Gemüse wird durch Preissteigerungen für Arme unerschwinglich. Fertigprodukte sind oft billiger.

Strauchtomaten liegen auf einem Tisch

Tomaten sind gesund – und für Arme immer weniger zu bezahlen Foto: Melanie Ira Schulz/imago

BERLIN taz | Als „Streckwoche“ bezeichnen manche Emp­fän­ge­r:in­nen von Grundsicherung die letzte Woche des Monats, dann, wenn das Geld nicht mehr reicht, um sich gesundes Essen zu kaufen. „In der letzten Woche vor Monatsende kommen mehr Leute als in der ersten Woche des Monats“, sagt Antje Trölsch, Geschäftsführerin der Berliner Tafel, „das merken wir ganz deutlich“.

Die Ausgabestellen der Tafel bieten auf mehr als zwei Drittel der Fläche Obst und Gemüse an und sind ein zunehmend wichtiger Notbehelf für Ärmere. Denn in Supermärkten werden Obst und Gemüse für Geringverdiener und Menschen in Grundsicherung durch die jüngsten Preissteigerungen „zum Luxusgut, das sie sich nicht mehr leisten können“, sagte die Präsidentin des Sozialverbandes VDK, Verena Bentele, dem Tagesspiegel.

Bentele bezog sich auf Angaben des Statistischen Bundesamtes, laut dem sich die Preise für Nahrungsmittel im August im ­Jahresvergleich um 4,6 Prozent erhöht hatten. Für Gemüse mussten die ­Ver­brau­che­r:in­nen 9 Prozent mehr zahlen als vor einem Jahr. Salat war knapp 38 Prozent teurer. Bei Obst betrug der Preisanstieg 2,5 Prozent. Von Discountern wurden zeitweise für Strauchtomaten Kilopreise von 4 Euro verlangt. Zum Vergleich: Eine 750-Gramm-Tüte mit gefrorenen Pommes frites kostet beim Discounter 1,29 Euro.

Die Teuerungen sind unter anderem eine Folge der Starkregen im Sommer und höherer Erntekosten aufgrund der Corona-Hygieneauflagen. Sie befeuern die Diskussion, dass der Hartz-IV-Regelsatz nicht ausreicht für eine gesunde Ernährung, denn im ­Regelsatz von 446 Euro im Monat sind nur knapp 155 Euro für Lebensmittel und Getränke vorgesehen.

Nur ein Euro mehr für das Essen

Vergangene Woche hatte das Kabinett eine Verordnung auf den Weg gebracht, laut der Erwachsene ab Januar 2022 einen etwas höheren ­Regelsatz von 449 Euro bekommen. Für Lebensmittel und Getränke bedeutet dies im Monat nur 1 Euro mehr. Die Regierung ignoriere „lebensnotwendige Bedürfnisse von Menschen in Grundsicherung“, sagte Bentele.

Im Juni hatte ein wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ein Gutachten vorgelegt, laut dem „der Preis von ernährungsphysiologisch höherwertigen Lebensmitteln für Armutshaushalte eine erhebliche finanzielle Restriktion darstellt“.

Ernährungsphysiologisch günstigere Lebensmittel wie Obst und Gemüse, Fisch oder mageres Fleisch seien im Vergleich zu energiedichten Lebensmitteln mit einem hohen Anteil an zugesetztem Zucker und Fett „im Durchschnitt (je 100 kcal) teurer und damit für einkommensschwache Haushalte schwerer zu finanzieren“, hieß es. Die Gutachter verwiesen auf „Deckungslücken“ zwischen dem Hartz-IV-Regelsatz und dem Bedarf für gesunde Ernährung.

Laut Studien brächten Lebensmittelkörbe mit einer geringen Energiedichte und höherem Gehalt an Vitamin- und Spurenelementen „bis zu zehn Prozent höhere Kosten“ mit sich als der Regelsatz vorsieht, so das Gutachten. Eine in dem Papier zitierte britische Studie kam zu dem Schluss, dass eine gesunde Zusammenstellung von Lebensmitteln mit viel Gemüse im Hinblick auf den Kalorienbedarf das Dreifache kostet wie ein eher ungesunder Warenkorb mit Nudeln, Pommes und gesüßten Getränken.

Um den Verbrauch von Gemüse und Obst anzukurbeln, schlagen die Deutsche Diabetes-Gesellschaft und andere Verbände vor, diese Produkte von der Mehrwertsteuer zu befreien und im Gegenzug ungesunde, stark gezuckerte Lebensmittel hoch zu besteuern.

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