Leihfahrräder in China: Aufstieg, Fall und Comeback

Shared Bikes setzten sich in keinem Land der Welt so stark durch wie in China. Nach der Goldgräberstimmung folgte der Kater, nun boomen sie wieder.

Tausende Leihfahrräder auf einer Halde

Entsorgungsfrage ungelöst: Leihfahrräder in Shenzhen, China Foto: ZUMA Press/imago

PEKING taz | Wer einmal Luftaufnahmen von chinesischen „Fahrradfriedhöfen“ gesehen hat, wird die spektakulären Bilder nicht so schnell vergessen: Hunderttausende Leihräder, aufgereiht nach den knalligen Farben der Betreiberfirmen, türmten sich auf den Brachflächen der Stadtränder. Viele der dystopisch anmutenden Müllhalden entstanden vor drei Jahren, als Ofo, einer der damaligen Marktführer, aufgrund von Schulden bankrott ging. Erst expandierten sie wie wild, dann gingen viele Firmen in die Knie. Unpassend für das Image, das die Branche eigentlich verkörpern will: grüne, nachhaltige Mobilität.

Auch wenn mit dem Konzept von Leihrädern weltweit experimentiert wurde, zündete die Idee nirgendwo so rasant wie in China. Der Grund: Viele haben hier ein Smartphone, dank des innovativen digitalen Schlosses brauchte es ab sofort keine Parkstationen für Räder mehr, die stattdessen frei im Stadtgebiet abgestellt werden konnten.

Für Minibeträge konnten Nutzer nun erstmals Bikes mit integriertem QR-Code via Smartphone-App entsperren. Das Geschäftsmodell der Anbieter beruhte auf der riesigen Datenmenge, die sie in Echtzeit generieren können. Zwei „early adopters“, Mobike und Ofo, erreichten schon bald den sogenannten Unicorn-Status: Damit bezeichnet man Start-ups, deren Marktwert auf über 1 Milliarde Dollar geschätzt wird.

Vor etwa sechs Jahren begann der Boom, die Leihräder revolutionierten Chinas Städte geradezu – oder, genauer ausgedrückt, führten sie zu ihrem Ursprung zurück. Denn seit Gründung der Volksrepublik war China stets das Synonym für belebten Radverkehr auf den Straßen. Noch im Jahr 1980 radelten laut Regierung fast zwei Drittel aller Berufspendler zur Arbeit. Vor fünf Jahren hingegen waren es nicht einmal mehr 12 Prozent.

Liebesaffäre der Nation mit dem Fahrrad

Mit dem neuen Wohlstand und der boomenden Autoindustrie verstopften die Straßen und die Luftverschmutzung in Chinas Innenstädten war bisweilen apokalyptisch. Dementsprechend priesen damals Staatsmedien wie etwa China Daily den Versuch der Tech-Start-ups, „die Liebesaffäre der Nation mit dem Fahrrad neu zu beleben“.

Und das gelang zunächst bestens: „Wir wollen die Probleme lösen, indem wir die Fahrräder zurück auf die Straßen bringen“, sagte der damals 25-jährige Li Zekun, Marketingleiter von Ofo, großspurig in einem Interview mit dem Guardian im Jahr 2016. Schon der Name war Programm: Wenn man sich Ofo optisch anschaut, ähnelt es einem Zweirad.

Investorengelder flossen in Milliardenhöhe in die Branche, vor allem angetrieben durch die chinesischen Internetriesen Tencent, Alibaba und Didi. Und auch die Nutzer nahmen die Raddienstleistungen dankend an.

23 Millionen Leihräder

Doch die Behörden in Chinas Städten begingen dann gleich mehrere Fehler: Es gab keinen Masterplan oder sonstige Regeln, die Leihräder in das öffentliche Transportsystem einzugliedern. Stattdessen zog es nun immer mehr Nachahmer auf den Markt, die auf schnelle Profite hofften. Ein ungebremster Boom war die Folge: Im harten Konkurrenzkampf setzten die großen Unternehmen auf aggressives Preisdumping, um die Mitbewerber auszubremsen. Doch trotz der auf mittlerweile 23 Millionen Stück angewachsenen Leihradflotte machte kein einziger Anbieter wirklich nachhaltig Gewinne.

Die Ausmaße des Überangebots waren in keiner chinesischen Großstadt zu übersehen: Trottoirs an belebten Straßen und U-Bahn-Eingänge waren fast durchgängig mit Leihrädern gepflastert, Spaziergänge wurden zu urbanen Slaloms.

Zudem verrosteten viele Räder: Nicht selten parken Chinesen nämlich ihr Shared Bike an Autobahnleitplanken, hinter Gebüschen oder in Parkanlagen. Während der Covid-Lockdowns, als praktisch sämtliche Pekinger Wohnanlagen abgeriegelt waren, nutzten einige Nachbarschaftskomitees die Fahrradketten als Gitterabsperrung. Bei Flusssäuberungsaktionen finden sich zudem regelmäßig Tausende Räder, die einfach ins Gewässer geworfen wurden.

Der Goldgräberstimmung folgte unweigerlich der Kater: Die Blase platzte, mindestens 60 Leihradanbieter gingen in den vergangenen vier Jahren in China bankrott. Es traf dabei auch die drei einstigen Marktriesen Ofo, Mobike und Bluegogo. Die Aufräumarbeiten blieben schließlich an den Kommunen hängen.

Solarzellen und Lithiumbatterien

Allein die Firma Xiaoming Bike überließ über 400.000 Räder nach ihrer Pleite sich selbst. Laut der South China Morning Post mussten bislang insgesamt rund 25 Millionen Räder recycelt werden. Dies ist aufgrund der teils integrierten Solarzellen und Lithiumbatterien ein aufwendiger Prozess.

Zwar haben einige Konzerne mittlerweile Wiederverwertungskonzepte entwickelt, bei denen etwa alte Reifen für Tartanbahnen in Schulen benutzt werden. Doch die meisten Räder wurden nicht recycelt. Ob sich Leihräder aus ökologischer Sicht lohnen, ist also nicht eindeutig zu beantworten. Laut einer aktuellen Studie chinesischer Forscher sparen die Räder erst nach einer zweijährigen Nutzungsdauer CO2-Emissionen.

Als die Branche sich gesundschrumpfte, sorgte ausgerechnet die Coronapandemie für erneutes Wachstum. Denn inmitten der Lockdowns nutzten Chinesen die Leihräder so intensiv wie nie zuvor – aus Angst vor Ansteckung in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Zusätzlich wurde der Trend durch die erstmals seit Jahren leeren Straßen in den Metropolen Schanghai und Peking befeuert.

Es scheint, als ob Industrie und Behörden aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Zum einen haben viele Stadtregierungen inzwischen den Wildwuchs beim Abstellen mit neuen Regeln eingedämmt. So dürfen die Räder in bestimmten Gegenden nur noch in markierten Zonen geparkt werden, um die Gehwege freizuhalten. Gleichzeitig kündigte zum Beispiel Peking an, noch dieses Jahr mindestens 44.000 der insgesamt über 800.000 Räder aus dem Stadtzentrum zu entfernen.

Exakte Nutzungsanalysen

Vor allem aber setzen die übrig gebliebenen Leihradanbieter inzwischen verstärkt auf technologische Lösungen, um ihre Dienstleistungen zu optimieren. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und Big Data stellen sie inzwischen exakte Nutzungsanalysen an, um genau zu identifizieren, in welchen Gegenden durchschnittlich wie viele Leihräder gebraucht werden.

Die Analysen ergaben so, dass seit Ausbruch der Pandemie Leihräder immer öfter für längere Fahrten benutzt werden, anstatt wie sonst üblich nur zur nächsten U-Bahn-Station. Die Firmen reagierten darauf, indem sie nun zusätzlich Elektro­scooter vermieten.

Bislang hält sich das Angebot noch im Rahmen. Doch Kritiker befürchten, dass möglicherweise schon bald an chinesischen Außenbezirken auch „E-Scooter-Friedhöfe“ entstehen.

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