der rote faden
: Politikerwahl ist wie Partnerwahl, ein Eiertanz

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Durch die Woche mit Ariane Lemme

Man, man, man. Die Woche hat tatsächlich mit einem Stoiber-Moment angefangen: Der schlimmstmögliche Kandidat stellt sich am Wahlabend hin und erkennt vorzeitig einen Regierungsauftrag. Das knallte mich zurück ins Jahr 2002: Ich saß im Auto und hörte die ersten Hochrechnungen im Radio, dann Stoibers schnarrende Stimme. Ich brach in Tränen aus, kein Witz. Stoiber als Bundeskanzler, der Gedanke hat mich fertiggemacht, so wütend und enttäuscht war ich. Möglicherweise hatte ich vorher sogar behauptet, in diesem Fall würde ich auswandern. Völlig überspannte Reaktion also von mir, klar. Heute versteh ich überhaupt nicht mehr, wie ich Gedeih und Verderb so an einer einzelnen Person ausmachen konnte, aber damals hatte ich noch Restalkohol jugendlicher Radikalität im Blut.

Pubertär

Dabei hat man gesehen: Das System demokratischer Staat ist ja – in den USA – selbst mit vier Jahren Trump immer irgendwie weitergerollt. Es bröckelt und ächzt vielleicht, aber es fliegt nicht aus der Kurve, das ist doch irgendwie ganz beruhigend. In der Zeit las ich, Scholz hätte damit gepunktet, Angela Merkel zu versprechen. Also den Wählern das Gefühl vermittelt, mit ihm werde alles schon irgendwie so weitergehen wie bisher. Und das ist ja eigentlich auch logisch, es ist ja im Leben immer dieser Eiertanz – bei der Wahl von Politikern wie bei der von Partnern: Alles muss neu, aufregend, anders werden, aber bitte verlässlich bleiben. Reiz mich, aber stör mich nicht in meiner Routine dabei. Sei da, für immer, aber nicht immer auf die gleiche Tour.

Scholz

Insofern ergibt die Wiederauferstehung der SPD, von allen inhaltlichen Gründen mal abgesehen, wunderbar Sinn. Laschet war parteipolitisch zu nah an Merkel, charakterlich aber nicht, er war quasi Merkel in doof; Baerbock dann wieder zu anders, na gut, und dann eben diese andere, halb ergraute, halb vertraute Partei, deren Kandidat sich nicht völlig zum Horst gemacht hat.

Pelz

Wobei natürlich auch mit einer grünen Kanzlerin nicht radikale Änderungen zu erwarten gewesen wären – wenn ihr Fraktionschef schon jetzt sagt, ein Tempolimit auf deutschen Carrera-Bahnen sei keine Bedingung für eine Koalition. Wie hat es mein alter Deutschlehrer immer ausgedrückt, wenn jemand eine gute Note wollte, ohne sich anzustrengen? „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass, oder was?!“, brüllte er dann mit seinem ungarischen Bariton. Herr Szegedi ist damit der einzige Lehrer, den ich bis heute regelmäßig zitiere. Ich musste an ihn und das Zitat denken, als ich diese Woche schnell noch den neuen Roman von Maxim Biller gelesen hab und – weil ich ihn so super fand – auch noch alle Rezensionen gleich hinterher. Häufiger geht es mir andersherum: Ich lese ein, zwei gute Rezensionen, hole mir begeistert das Buch – und lege es enttäuscht nach der Hälfte spätestens weg. Um was zu Ende zu lesen, das mich langweilt, ist das Leben zu kurz. In diesem Fall hatte ich vorher nichts gelesen – und war enttäuscht nur von den Rezensionen.

Hitlergruß

Was wahrscheinlich so sein muss, wenn man das Buch tatsächlich zu Ende liest – weil wahrscheinlich keine zwei Menschen je dasselbe Buch lesen, sondern immer mitlesen, was halt in ihren Köpfen und Herzen schon da ist. Wütend macht einen diese Banalität ja manchmal nur, wenn man was für besonders gut oder besonders gaga hält. Und während viele Rezensenten auf den ganzen Spiegeleffekten des Romans rumritten, fand ich es einfach genial, wie Billers „Der falsche Gruß“ die Wirkmechanismen des aktuellen Judenhasses vor den Augen des Lesers auseinanderbaut wie ein kaputtes Uhrwerk. Und das anhand von zwei Figuren. Der Ich-Erzähler, ein hardcore-antisemitischer Intellektueller, zeigt seinem jüdischen Kollegen vielleicht den Hitlergruß – wahrscheinlich aber eher nicht. Seine für sein Leiden symptomatische Paranoia lässt auch dem Leser keine Klarheit darüber. Klar wird nur: Vor lauter Angst vor den Konsequenzen, sprich, vor lauter Angst, als der Antisemit entlarvt zu werden, der er ist, vollzieht er den eigentlichen Hitlergruß. Er vernichtet durch Denunziation seinen Kollegen. Er selbst wird am Ende belohnt. Mit fettem Buchvertrag und einem sicheren Platz im Diskurs.

Jetzt werden Sie wohl sagen: Das ist doch Quatsch. Schon der leiseste Verdacht auf Antisemitismus verbannt einen heute aus dem öffentlichen Leben, das sieht man doch an der Journalistin Nemi El-Hassan, der wegen ihrer Teilnahme an der – allerdings unstrittig antisemitischen – Al-Quds-Demo vor sieben Jahren diese Woche ihr Job als Moderatorin der Wissenssendung „Quarks“ wieder entzogen wurde. Nun ja. So sehr ich dafür bin anzuerkennen, dass Menschen, zumal in ihrer Jugend, manchmal dumm sind und klüger werden, Fehler machen und bereuen, und so sehr ich dafür bin, das einander eher als Stärke denn als Schwäche auszulegen, so sehr bin ich auch überzeugt, dass El-Hassans Karriere sicherlich nicht beendet sein wird.

Nächste Woche Robert Misik