Neue SPD-Generation im Bundestag: Politik als Backrezept

Rasha Nasr sitzt als eine der jungen Hoff­nungs­trä­ge­r*in­nen der SPD im Bundestag. Wie hat sie das geschafft? Und was will sie erreichen?

Die junge SPD-Politikerin blickt auf ihr Smartphone

Vorteil Social Media: Bei Instagram und Twitter ist Rasha Nasr bestens vernetzt Foto: Stephan Floss

Gleich an ihrem ersten Tag in Berlin sitzt Rasha Nasr neben Olaf Scholz. Ein Foto davon, beim Treffen der Landesgruppe Ost der SPD-Fraktion, landet auf Twitter. Einen Tag später ist Nasr in der Tagesschau zu sehen, stellvertretend für die gesamte 206-köpfige Fraktion der SPD, insbesondere für die neue, jüngere Generation in der Partei. Das mit Scholz sei Zufall gewesen, sagt die Dresdnerin später am Telefon. Aber: Rasha Nasr hat ein Talent für den guten Moment.

Nach nur vier Jahren Mitgliedschaft in der SPD wird sie im März dieses Jahres Direktkandidatin für den Wahlkreis Dresden I, landet im Mai auf der sächsischen Landesliste auf Platz 4 – und ist im September Mitglied des Bundestags. Ein Bundestag, in dem die SPD-Fraktion jünger, diverser und ostdeutscher ist als je zuvor. Mittendrin: Rasha Nasr, in Sakko und weißem T-Shirt, auf dem ein großes, buntes Frauenzeichen mit Faust drin prankt, das Symbol für Feminismus. Die Inszenierung sitzt.

Rasha Nasr

„Du kannst meckern, wie blöd alles ist, oder du versuchst, selbstbewusst deinen Hut in den Ring zu werfen“

Am Dienstag, zwei Tage nach der Bundestagswahl, steigt die 29-Jährige um 5 Uhr 40 in Dresden in den Zug nach Berlin. Das erste von vielen Bildern für ihre Follower* bei Instagram entsteht. Nach elf Monaten Eigenwahlkampf innerhalb der SPD und über 160 Straßenveranstaltungen ist sie da angekommen, wo sie hin wollte: dort, wo Entscheidungen getroffen werden.

Eine Woche zuvor ist Berlin noch ziemlich weit weg. Es ist Mittwoch, der 22. September, als Rasha Nasr mit drei Ge­nos­s*in­nen vom Ortsverband Leuben in Dresden vor der alten Staatsoperette ihren kleinen Wahlkampfstand aufbaut. Aufbruch liegt nicht gerade in der Luft. Das Gebäude in bröckelndem Altrosa steht seit Jahren leer, das Interesse der Pas­san­t*in­nen ist gering, viele haben schon per Brief gewählt. Eine Gruppe aus vier kantigen Männern zieht vorbei, einer raunt: „Als ob hier jemand SPD wählen würde.“ Am Wahltag wird sich zeigen: Genau hier, im Wahlkreis Dresden I, hat die SPD die meisten Zweitstimmen bekommen.

Um Gerechtigkeit geht es ihr, besonders für den Osten

Ein bisschen Neugier weckt die Wahlkämpferin aber doch. Ein junger Erstwähler, der in der Pflege arbeitet, will wissen, was die SPD für ihn tut. Nasr nennt den Mindestlohn und sagt, dass sie sich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzt. Jemand geht vorbei und ruft, er würde ohnehin AfD wählen. Nasr und ihr potenzieller Erstwähler drehen sich kurz um, dann greift sie die Situation indirekt gleich auf: „Wir haben eine starke Zivilgesellschaft in Dresden. Aber damit diese Strukturen stabil sind, brauchen wir das Demokratiefördergesetz.“

Nicht nur um ihre politischen Forderungen geht es ihr – die gebürtige Dresdnerin möchte auch den Ruf ihrer Stadt aufpolieren: „Ich bin hier geboren, ich liebe diese Stadt und bin auch stolz drauf, Dresdnerin zu sein. Das ist mein Zuhause, meine Heimat. Aber manchmal kann diese Stadt auch hässlich sein“, sagt sie später, nachdem der Wahlstand für diesen Tag wieder eingeklappt ist.

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Für frustrierte Mit­bür­ge­r*in­nen hat Nasr Verständnis. Sie sagt, sie will den Ostdeutschen ihren Stolz zurückgeben. Gerade die arbeitsmarktpolitischen Themen der SPD sind ihr deshalb wichtig. „12 Euro Mindestlohn würde hier in Sachsen 600.000 Menschen zugutekommen. Auch ein Bundestariftreuegesetz, eine Kindergrundsicherung und natürlich eine Rente, die sicher ist.“ Für diese Themen brennt sie, für die will sie kämpfen.

„Du kannst meckern, wie blöd alles ist, oder du versuchst, selbstbewusst deinen Hut in den Ring zu werfen“, sagt sie rauchend. Also bewirbt sie sich im Oktober 2020 als Direktkandidatin der SPD. Im Mai 2021 wird sie zusätzlich auf die Landesliste gewählt. Platz 4. Zu diesem Zeitpunkt rechnet sich die Partei nicht mehr als drei Mandate aus.

„Damals war das der Hoffnungsplatz“, sagt Martin Dulig am Wahl­abend. Wohlgelaunt ist der sächsische Wirtschaftsminister und Nochvorsitzende der SPD Sachsen gerade aus einem Fernsehstudio zur Wahlfeier im Dresdner Elbegarten gestoßen, unterhalb des Blauen Wunders. Die Ergebnisse sehen gut aus, es herrscht allseits Partystimmung. Die SPD ist zurück, die Ge­nos­s*in­nen können ihr Glück selbst kaum fassen. Mit 24,6 Prozent der Zweitstimmen ist die AfD in Sachsen der Wahlsieger, das haben hier alle erwartet. Aber die 19,3 Prozent für die SPD im Gegensatz zu 17,2 Prozent für die CDU – das ist eine Sensation.

Plötzlich tat sich Raum für junge „Rookies“ auf

Noch bei der Bundestagswahl 2017 erreichte die SPD in Sachsen gerade mal 10,5 Prozent. Zur Landtagswahl 2019 waren es mickrige 7,7. Dass die Bundestagsfraktion der SPD nun jünger ist, hat womöglich damit zu tun, dass niemand die hinteren Listenplätze ganz ernst genommen hat und plötzlich Platz für ein paar Rookies, für Neulinge, war.

Rasha Nasr wird 1992 in Dresden geboren. Ihre Eltern sind 1986 aus Syrien in die DDR eingewandert, nach der Friedlichen Revolution zieht die Familie in ein Dorf im Landkreis Meißen. Als 2015 viele Geflüchtete aus der Heimat ihrer Eltern nach Deutschland kommen, ist Nasr gerade mit dem Politik- und Philosophiestudium an der TU Dresden fertig und arbeitet dort in der Pressestelle.

2016 wird sie Asylkoordinatorin in der Bergarbeiterstadt Freiberg. Dort lernt sie im selben Jahr Martin Dulig kennen. Ein Jahr später tritt sie in die SPD ein und arbeitet als Pressesprecherin beim Landesverband der Partei, also bei Martin Dulig. Was hat der mit der Karriere von Rasha Nasr zu tun? „Erfolg hat viele Mütter und Väter“, meint er.

Nasr selbst sagt: „Martin Dulig hat mich in die SPD geholt.“ Seine Art, mit Menschen zu sprechen, habe sie mitgerissen. Dulig wiederum sagt, Nasr begeistere ihn, weil bei ihr Herz und Kopf zusammenkämen. Sie ist das, was viele so gerne wären: authentisch.

Ihr politisches Idol: Alexandria Ocasio-Cortez

Rasha Nasr ist eine leidenschaftliche Sozialdemokratin auf Sächsisch. Sie sagt Sachen wie „übelst krass“ oder „das geeht ni“. In diesem weichen sächsischen Hochdeutsch erklärt sie, wie sie ihre Heimat gestalten will. Den Drang, die Welt um sich herum zu verändern, hat Rasha Nasr wohl von ihren Eltern. „Sie haben mir beigebracht: Setz dich für deine Mitmenschen ein. Begegne ihnen mit Respekt und Liebe, und du wirst es zurückbekommen. Das hat mich sehr geprägt.“

Ausgiebig könnte Nasr über Ausgrenzung, rassistische Übergriffe und verdachtsunabhängige Polizeikontrollen sprechen. Über die Frau, die sie einmal vom Fahrrad zerren wollte. Über die drei Männer, die ihr nach dem Einkaufen Prügel androhten. Über Hass in sozialen Netzwerken. Sie spricht darüber – aber dosiert. Sie will lieber das Positive betonen und zunächst einmal an das Gute im Menschen glauben. „Wie willste sonst weitermachen?“

Kraft gibt ihr neben ihrer Familie und ihrer Partei auch die Initiative Brand New Bundestag, kurz: BNB. Vorbild dafür ist die Initiative Brand New Congress, über die die mittlerweile weltweit bekannte demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez ins US-amerikanische Repräsentantenhaus gekommen ist.

Rasha Nasr hat die Dokumentation „Knock Down the House“ über Brand New Congress gesehen, der Aufstieg von Ocasio-Cortez inspiriert sie: „Das war für mich ein sehr empowernder Moment. Als diese junge Frau mit 28 in dieses Haus eingezogen ist, aufgeräumt hat und den Männers dieser Welt, die dickeirig durch den Kongress gelaufen sind, selbstbewusst die Stirn geboten hat. Das hat mich nachhaltig beeindruckt. Deshalb habe ich mich dann bei Brand New Bundestag beworben.“

Von der Initiative wird Nasr seit Dezember 2020 gefördert. Mit Workshops zu Social-Media-Auftritten, zum Umgang mit Hate Speech und mit einer Einführung ins Leben als Bundestagsabgeordnete. Von BNB erhält sie auch eine finanzielle Unterstützung von 2.000 Euro. Damit lässt Rasha Nasr ein Backbuch drucken: „Cupcake Politics“. Darin erklärt sie ihre politischen Ziele mithilfe von Backrezepten.

Tatsächlich liebt Nasr das Backen. Bis 2017 waren auf ihrem Instagram-Kanal fast ausschließlich üppige Torten zu sehen. Für den Wahlkampf hat sie ein handlicheres Format gewählt: kleine Tassenkuchen, Cupcakes. Sie macht auch Videos für die sozialen Medien, will politische Inhalte einfach erzählen. In einem Bundesland, in dem Politik einen großen Teil der Menschen nicht mehr erreicht, ist die Frage nach Verständlichkeit womöglich zentral.

„Dass sie gewinnen würde, war mir vollkommen klar“, sagt Friedrich Jung in Dresden auf der Wahlparty der SPD. Gegen ihn hat Nasr sich im März als Direktkandidatin ihres Wahlkreises durchgesetzt. Der 57-Jährige ist ein freundlicher Mann aus der Eifel, der seit 1993 in Dresden lebt – ein eher klassischer Genosse, wie er selbst sagt: erst Diplomvolkswirt, dann Gewerkschafter, dann Genosse. Schon Jungs Vater und Großvater waren Sozialdemokraten. Eine solche Art der Verwurzelung der SPD in der Gesellschaft sehe er in Sachsen leider nicht.

„Wenn ich heute junge Leute ansprechen will, muss ich auch junge Leute anbieten. Wir brauchen einen anderen Blickwinkel als nur von den bekannten Gesichtern“, sagt Jung. Genau dafür steht Rasha Nasr, und eben dafür wird sie an jenem Abend mit Applaus und „Rasha, Rasha“-Rufen gefeiert.

Ein Genosse warnt: Sie darf sich nicht verheizen lassen

Rasha Nasr strahlt geradezu als Sinnbild für den jungen, diversen und ostdeutschen Nachwuchs an diesem Abend. Was ihr noch fehlt, das ist praktische Erfahrung in einem politischen Amt. Sie will gerne in den Ausschuss für Arbeit und Soziales oder den Innenausschuss. Bei harten politischen Diskussionen wird sich dann zeigen, wie viel Gehör ihre Expertise finden wird. Ein Genosse auf der Dresdner SPD-Party meint, sie müsse aufpassen, sich nicht verheizen zu lassen.

An diesem Jubelabend nach der Wahl traut man ihr in Dresden aber erst einmal sehr viel zu. Allen auf der Party leuchten die Augen, wenn man sie auf Rasha Nasr anspricht. Das neue Selbstbewusstsein der SPD – es beruht auch auf Kandidatinnen wie ihr. Einer, die begeistern kann.

Rasha Nasr, die sich von Alexandria Ocasio-Cortez beeindrucken ließ, ist selbst zum Vorbild geworden. Eine Dokumentation über sie und die anderen brandneuen Bundestagsmitglieder ist bereits in Arbeit.

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