Saisonauftakt am Staatstheater Schwerin: Dickes M

Fünf Premieren an zwei Tagen, alles dabei: Scheitern der Regie, Theater von vorgestern, vitaler Aufbruch und großer Erfolg.

Auf der Bühne: Eine Frau, sitzend, schaut auf ihr Smartphone, daneben steht ein Mann und gestikuliert

Verschnarchtes Betroffenheitstheater: „Ünnerste Schuuwlaad“ mit Anna Reinhard und Simon Grundbach Foto: Silke Winkler

SCHWERIN taz | Apart sandfarben strahlt der Theaterplast. Das Foyer ist frisch getüncht, heller illuminiert und neu vergoldet aller Zierrat, um der zuletzt etwas verstaubten Aura des Traditionshauses wieder zu Glanz zu verhelfen. Hatte sich das Staatstheater in Schwerin doch in den vergangen fünf Jahren zu einem brodelnden Häufchen Elend verwandelt: Intendant Lars Tietje gab den eisenharten Erfüllungshelden seines Sparauftrags, 42 Stellen sollte er abbauen und mit einem nie erhöhten, also sinkenden Etat auskommen.

Er versuchte mit einem möglichst populären Spielplan Geld in die Kassen zu holen – kein Konzept, das Vertrauen nährte, sondern das Betriebsklima ruinierte. Tietje weine keiner eine Träne nach, heißt es im Haus nun. Er ist im Sommer ans Stadttheater Bremerhaven gewechselt. Nachfolgender Generalintendant ist Hans-Georg Wegner, der in Bremen und Weimar erfolgreich Opernchef war.

Jetzt will er sich im „Landeshauptdorf“ Schwerin auf die Ära Christoph Schroth beziehen: Der realisierte in den 1970er- und 1980er-Jahren ein Volkstheater, das sich als öffentliches Forum der Selbstverständigung in Opposition zur offiziellen PR verstand, in zeitgenössischen Stücken und Klassikern die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft durchspielte und dabei enttäuschte Hoffnungen, leere Utopien und aktuelle Konflikte deutlich machte.

Wachsende Wut und Wendelust keimten in der Diagnose, dass da ein Staat von innen zerbrösele. Derart nah am Zeitgeist war diese Bühnenkunst, dass davon in Schwerin heute noch geschwärmt wird.

Das „M.“ kommt wieder

Das Logo für Schroths Theater war ein schlankes M. Das greift Wegner nun auf mit einem dicken, fetten M – wie Mecklenburg, Schwerin wurde aus dem Namen getilgt. Trotzdem will Wegner auch Stadttheater sein. Weil Schwerin bundesweit führend ist – bei der sozialen Segregation der Bevölkerung – und das Theater im schmucken Zentrum neben dem Schloss und Landtag steht, wird 2022 eine neue Spielstätte eröffnet: in der Plattenbausiedlung Großer Dreesch.

Grundsätzlich bleibe Theater im Osten etwas Eigenes, sagt Wegner. „Hier interessiert nicht der Wettlauf um die tollen Regisseure aus München und Hamburg.“ Deswegen kommen in Schwerin beispielsweise dramatisierte DDR-Filme auf die Bühne:

„Die Auseinandersetzung mit dem nostalgischen Blick, den ich verstehen kann, aber überhaupt nicht teile“, so Wegner, selbst gebürtiger Dessauer. Auch will er Opern von DDR-Komponisten zeigen, weil die keine zeitgebundene, sondern zeitlos große Kunst seien – Projekte für eine selbstbewusste Ost-Identität.

Den Neustart stützt die Politik: 21,8 Millionen des jetzt 25-Millionen-Etats kommen vom Land, das seinen Beitrag bis 2028 jährlich um 2,5 Prozent erhöht und in Parchim einen Neubau fürs Kinder- und Jugendtheater für 40 Millionen Euro bezahlt; Eröffnung geplant für Dezember 2022. „Jetzt sind wir massiv besser finanziert als die Theater in Schleswig-Holstein“, sagt der kaufmännische Geschäftsführer Christian Schwandt, in gleicher Funktion von 2007 bis 2020 am Theater Lübeck.

Fulminante Saisoneröffnung

„Mit coronabedingt eingespartem Geld können wir sogar vier bis fünf neue Stellen schaffen.“ Zur monetären Euphorie kommt eine fulminante Saisoneröffnung des Sechs-Sparten-Hauses mit fünf Premieren an zwei Tagen. Alles dabei: Scheitern der Regie, Theater von vorgestern, vitaler Aufbruch und großer Erfolg.

Nicht groß erneuert wurde das Schauspiel – „weil ich das total klasse fand“, so Wegner. Also blieben Dramaturgie sowie viele Regisseur- und Schauspieler:innen. Zur Saisoneröffnung bekam die zum fünften Mal engagierte Alice Buddeberg die große Bühne für einen Klassiker des poetischen Realismus: Marcel Carnés „Die Kinder des Olymps“ (1944). Kol­le­g:in­nen inszenieren den Stoff gerne als romantisch-karnevaleske Ode an die Theater-Bohéme; das „Kommen Sie, staunen Sie“ der Conférencière bezieht sich in Schwerin aber erst mal auf die Ausstattung:

Mit schwarzen Strichen auf weißem Knitterpapierkostümen sind historische Körperverhüllung skizziert. Auch die Requisiten sind schwarz auf weiße Pappe gemalt – sieht gut aus, wie Schwarz-Weiß-Film. Zirzensische, akrobatische, pantomimische, komische Szenen und schön designte Bilder wechseln sich ab. Aber das Ensemble unterspielt teilweise die Dialoge, große Gefühle werden recht äußerlich dargeboten, die Poesie des Stoffes wirkt skelettiert, dafür ist die Backstage-Komödie betont.

So kann Buddeberg anderthalb Stunden lang nichts Konkretes mit der Vorlage anfangen – um dann zu zeigen, dass alles nur Ausgangspunkt war für Grundsätzliches zur mimetischen Kunst, den Problemen beim Filmdreh im damals deutsch besetzten Frankreich sowie den heutigen Arbeitsbedingungen am Theater.

Nirgends ein Gedankenfunken

Seine Schau­spie­le­r:in­nen spielen die eines Films, die wiederum welche am Theater –und dort ihre Rollen – spielen, dazu scheitern unterschiedliche Liebeskonzepte. Zwischen diesen Ebenen springt die Regie formschön hin und her, aber nirgends leuchtet ein Gedankenfunken, zündet eine Idee. Buddeberg verliert völlig den roten Faden und damit alle Energie – eine drei Stunden sich hinziehende Enttäuschung.

Das Junge Staatstheater zeigt zur Eröffnung Karin Epplers „Die bleiche Sophie“: Teeniekeck verloren erzählt Arikia Orban darin von der Überforderung in der Schule, dem ersten Kuss und den Eltern, die nie Zeit, aber immer Streit haben. Den recht klischeehaften Text derart ungebrochen und Scheidungskindernöte sowie Pubertät ohne Interaktion als putziges Gespenstermärchen zu monologisieren: eine Reise ins Kindertheatermuseum.

Nicht besser zeigt sich die plattdeutsche Fritz-Reuter-Bühne: Vollgestopft ist die Spielfläche mit Realismus behauptenden Requisiten, dazu gibt es meist kraftmeiernd übertriebenes Spiel und monoton strahlende Artikulation.

Während drei Straßenecken vom Theater entfernt die AfD echte Wäh­le­r:in­nen rekrutiert, lässt Michael Ramløses „Ünnerste Schuuwlaad links“ ein Geschwisterpaar unterm Dachbodenstaub das Bekenntnis des Nazi-Opas entdecken, Lessings „Nathan der Weise“ und Briefe von Omas jüdischem Freund lesen, dazu tröpfelt sanfter Klezmer aus den Boxen – muffig verschnarchtes Betroffenheitstheater.

Starke Tän­ze­r:in­nen

Komplett neu aufgestellt ist die Tanzsparte: Xenia Wiest, zuletzt Tänzerin am Berliner und dem Hannoveraner Staatsballett, hat ein technisch eindrucksvolles, ausdrucksstarkes, reizvoll diverses Ensemble zusammengestellt. Sehr ballettös agierende Tän­ze­r:in­nen treffen auf eher sportiv-moderne Bewegungskünstler:innen, Spitzentanz begegnet also expressiv-ruckartiger Gestik und raumgreifender Exaltation.

Das Mit- und Gegeneinander der Ausdrucksmöglichkeiten verstärkt die Spannung, wenn personifizierte apokalyptische Reiter – Krieg, Krankheit, Hunger und Tod – einen Menschen zum Geflüchteten machen; „Nacht ohne Morgen“ ist die Choreografie betitelt. Starke Bilder und Pas de deux gelingen Wiest, weniger überzeugend sind die Ensembleszenen. Aber zwischen klassischer Grazie, zeitgenössischer Eleganz und inhaltlichem Wollen offenbart diese Sparte enormes Zukunftspotenzial.

Zum Finale die runderneuerte Oper. Als „unser Konzept“ bezeichnet es Wegner, „nicht die üblichen Repertoirestücke zu spielen, sondern neue und vergessenen Opern zu entdecken“, und dabei neben dem Singen „auch als Vollblutschauspieler agieren zu wollen“ – das habe „viele überzeugt, sodass wir ein herausragendes Ensemble haben“.

Apokalyptische Bläser

Den Beweis führt die erste Premiere: Operndirektor Martin Berger inszeniert Györgi Ligetis modernen Klassiker „Le Grand Macabre“. Als um sich selbst drehende Gesellschaft rotiert das Publikum in einem bilderflutenden Rondell aus Bühnen und Leinwänden. Zur 360-Grad-Bespielung ertönt die Musik aus dem Zuschauerraum.

Das dort platzierte Orchester geht Ligetis anarchische Lust am Persiflieren von Liebesduetten, apokalyptischen Bläsern oder Fundstücken von der Opernmüllhalde allerdings etwas zu verbissen an, während zwischen den Be­su­che­r:in­nen Go-go-Girls tanzen. Ein hinzuerfundener Comic-Nerd fantasiert das Geschehen um den muskelgeblähten Terminator Nekrotzar, der in animierten Videos sowie live Jüngstes Gericht und Weltuntergang verkündet.

Während auf den Bühnen vereinzelte Menschen medial berieselt dahinvegetieren, sich dem Suff ergeben oder per Sex verlorene Nähe wiederherstellen wollen, versucht ein lächerlicher Fürst von der Theaterloge aus mit populistischer Wut- und Angstmacherei sein Steuer- und Disziplinierungsprogramm zu propagieren.

Grelles, totales Theater als mitreißendes Spektakel: Es trifft den farcenhaft bis grotesken Duktus der Oper, übertreibt ihre Grobheiten, auch das Performative in die Travestie. Zum Finale allerdings fällt die Zerstörung aus – und nach der Pandemie allgemeiner Verunsicherung und Entfremdung wird das Publikum zur Feier des Lebens animiert, so heiter und ausgelassen, wie es eben geht. Verheißungsvolles Statement der Opernsparte – und furioser Ausklang des Premierenmarathons.

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