zwischen den rillen
: Neue Heimat dank Public Enemy

Vivien Goldman: „Next Is Now“ (Youth Sounds/Cadiz Enter­tainment). Chantage: „It’s Only Money“, digital über staubgold.bandcamp.com

Man kommt kurz ins ­Stutzen, aber doch, es stimmt: Das kürzlich veröffentlichte Album „Next Is Now“ von ­Vivien Goldman ist tatsächlich ihr Langspieldebüt als Solistin. Die seit Langem in New York lebende britische Künstlerin und Musikjournalistin, inzwi­schen 69 Jahre alt, ist eine Ikone des britischen (Post-)Punk: Als Mitglied von Londoner Bands wie The ­Flying Lizards und Chantage und einigen Singles unter ­eigenem Namen hatte sie seit Ende der Siebziger Dub­reggae und Afrosound ins Klangbild des Punk inte­griert. Später lehrte sie an der City University of New York über Punk- und Dub­kultur. Aber ein Full-length-Album, das hatte sie bislang noch nicht gemacht.

„Next Is Now“ ist nicht nur aus diesem Grunde bemerkenswert. Denn überdies klingt seine Musik überraschend positiv, politisch und kämpferisch. Schon vor der US-Präsidentschaftswahl 2020 meldete sich Goldman zu Wort, als sie mit dem für sie untypischen Klavier-und-Streicher-Song „I Have a Voice“ dazu aufforderte, den Mut in Zeiten von Brexit und Trump nicht zu verlieren – das Stück findet sich nun auch auf dem Album. Ähnlich ­empowernd klingt die Discohymne „My Bestie & My BFF“: „Meet you at the demo / Catch you at the disco (…) We’re gonna change this mess“, singt Goldman darin, und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glauben, man höre da die Stimme eine 18-jährigen ­Fridays-for-Future-Aktivistin.

Musikalisch mischen sich karibische Rhythmen mit Anklängen an Mainstreamstars wie Village People und ABBA. Im Auftaktstück „Russian Doll“ erklingen dagegen zunächst ein Bläsersound und ein tief tönender, dubbiger Bass, der das ganze Stück über wiederholt wird. Es folgen frickelige Percussions und Drums, das Ganze wird mit Echo und Hall versehen, und über diese Ins­trumentals singt Goldman mit ihrem hellen Sopran. „Russian Doll“ ist ein Song über Migrations- und Asylpolitik („Children who need shelter / Pro­tectors / Who love them / Sent them back to where they came from / But they don’t belong there anymore / Will we ever find home?“), die Britin kommentiert damit wohl nicht nur die anhaltenden Ankündigungen der konservativen britischen Regierung, das Asylrecht deutlich zu verschärfen, sondern auch die Flüchtlingspolitik der EU.

Das Nebeneinander von Dub und Pop, leichte und schwere Themen zugleich in den Songtexten überzeugen auf „Next Is Now“. So ist „Saturday Afternooon“ ein Loblied auf den Hedonismus und die verschiedenen Darreichungsformen von Koffein („Cappuccino or espresso / Americano“); den Song „Home“, in dem sich gesprochene Passagen und ein melodischer Refrain abwechseln, kann man dagegen wie einen längst überfälligen Versuch lesen, Heimat neu zu definieren: „Home is (…) Where I first heard Public Enemy.“

Musikalisch macht dieses Album auch deshalb einen so frischen Eindruck, weil fast alle Stücke toll produziert sind – Goldman hat mit dem britischen Dancefloor-Produzenten Martin „Youth“ Glover zusammengearbeitet.

Das Nebeneinander von leichten und schweren Themen überzeugt

In Musikerkreisen sind Vivien Goldmans Verdienste unumstritten, das zeigt sich auch daran, dass nach und nach ihre alten Singles wieder veröffentlicht werden. So hat das Label Staubgold kürzlich die EP „It’s Only Money“ ihres Duos Chantage von 1983 wieder zugänglich gemacht. Zudem soll ihre feministische Punk­kulturgeschichte „Revenge of the She‑Punks“, im Original 2019 erschienen, im Herbst beim Mainzer Verlag Ventil auf Deutsch veröffentlicht werden. Genug Gelegenheiten also, Vivien Goldman in diesem Jahr (wieder) zu entdecken.

Jens Uthoff