Philosophisches Café mit Autor Per Leo: Produktive Unruhe

Der Autor Per Leo kritisiert in seinem Essay „Tränen ohne Trauer“ die deutsche Erinnerungskultur. Nun ist er zu Gast in Hamburg.

Blick auf das Stelenfeld vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin-Mitte.

Damit werben heute Immobilienmakler: Blick aufs Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas Foto: Jens Kalaene/dpa

HAMBURG taz | Wenn einer etwas so Gewichtiges wie die deutsche Erinnerungskultur der Kritik unterziehen will, gar einer radikalen, dann ist ihm Aufmerksamkeit gewiss. Und Widerspruch: Ist nicht verdächtig, wer rührt an den – vielfach unter Schmerzen erkämpften und verteidigten – bundesrepublikanischen Verständigungen zur deutschen Schuld? Den angeblichen „Schuldkult“ endlich loszuwerden: Ist das nicht eine Sehnsucht von Nazis, alten und neuen und solchen, die partout nicht Nazis genannt werden möchten?

Nun ist Per Leo tatsächlich manchen suspekt – nicht zuletzt wegen seiner Beteiligung am Buch „Mit Rechten reden“ (und der dahinter stehenden Aufforderung?). Aber wenn der schriftstellernde Historiker ein Buch – im Untertitel – „Nach der Erinnerungskultur“ nennt, dann will er nicht den Schlussstrich, nach dem sich AfD-Granden wohl sehnen. Gleichwohl geht es ihm in „Tränen ohne Trauer“ (Klett-Cotta 2021) um ein Einordnen und Kontextualisieren von etwas, das viele aus gutem Grund, aber manchmal auch aus nicht so gutem, absolut setzen: der Singularität des Holocausts.

Gleich zu Anfang schreibt er, das Buch sei entstanden zu der Zeit, „als in Deutschland ein schon lange schwelender Streit“ entflammt sei: „über das Verhältnis von Kolonialismus und Antisemitismus, von Holocaust und Kolonialverbrechen“. Deshalb lag taz-Redakteur Jan Feddersen nicht falsch, als er Ende Juli einen Online-Talk mit Leo mit den „etwas saloppen“ Worten eröffnete, in dem Buch stünde alles, „was wir wissen müssen, um zeitgenössisch mitplappern zu können“.

Ein Plappern, ein Gerede erkennt nun auch Leo: „Vom Nationalsozialismus wird in Deutschland oft maßlos, selten genau gesprochen“, damit eröffnet er das Buch. „Die Beliebigkeit des alltäglichen Geredes und die Vermessenheit seines Anspruchs“, heißt es da weiter, stünden dabei „in keinem Verhältnis zu einem „historischen Gegenstand von solchem Gewicht“.

Philosophisches Café mit Per Leo (Moderation Wolfram Eilenberger):

Do, 9. 9., 19 Uhr, Hamburg, Literaturhaus sowie online

Auch wenn Leo anerkennt, dass die Rede von der Singularität auftreten kann „in dogmatischer und damit potentiell theologischer Form“, und auch das aus guten und weniger guten Gründen: Seine Kritik am allzu Erstarrten ist eine andere, als sie der jüngst so viel zu Wort kommende Genozidforscher Dirk A. Moses mit seinem „Katechismus der Deutschen“ geäußert hat. Auch der verschiebt ja den (west-)deutschen Konsens in den Bereich des Religiösen, mithin der Vernunft nur eingeschränkt Zugänglichen. (Dass das keinesfalls dasselbe sei wie die erwähnte „Schuldkult“-Trope der Nazis: Das ist Moses' Followern in Nah und Fern, an den Akademien und weit weg davon, immer wieder enorm wichtig.)

Mit Moses gemein hat Leo einen Hang zur Polemik, einem schreiberischen Mittel also, das Erkenntnisfunken sprühen lassen kann und das hier auch immer wieder tut – aber manchmal eben auch nicht. Wer für etwaiges Unbehagen am Buch und seinem Inhalt einen Ansatzpunkt braucht, könnte ihn finden im Befund, dass Leo mitunter einer ihrerseits dem Thema nicht angemessene Flapsigkeit verfällt.

Wenn er nun im „Philosophischen Café“ in Hamburg über eine „Kritik des Erinnerns“ spricht, hat er also kein perfektes, aber im guten Sinne Unruhe stiftendes Buch im Gepäck: Keines, dass dem Verdrängen zuarbeitet oder gar dem Leugnen. Sondern eines, das nach neuen, nach der Zeit gemäßen Weisen des Erinnerns sucht – und dabei, ja: auch mal daneben greift. Es gibt wahrlich Schlimmeres.

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