„Helden der Wahrscheinlichkeit“ im Kino: Zusammenkunft der Versehrten

„Helden der Wahrscheinlichkeit“ ist eine schwarze Komödie mit Mads Mikkelsen. Sie erzählt vom Kampf gegen Verlust und Trauer.

Vier Männer mit entschlossenen Gesichtern in einem Auto, hinter der Windschutzscheibe.

Auf der Jagd nach den Ursachen des Unglücks in „Helden der Wahrscheinlichkeit“ Foto: Neue Visionen

Wie genau lassen sich Ereignisse mit Big Data auswerten? Und wie sinnvoll sind die Aussagen, die man auf diesem Weg gewinnen kann? Taugen sie, um das eigene Handeln an ihnen auszurichten, selbst in grundlegenden Fragen?

Algorithmen, die derlei Dinge mutmaßlich tun, erfassen inzwischen ein gut Teil der digital vermittelten Welt. Sie spielen in der Komödie „Helden der Wahrscheinlichkeit“ des dänischen Regisseurs Anders Thomas Jensen eine tragende Rolle. Ihre mathematische Präzision in Kombination damit, wie Menschen die resultierenden Daten dann ihrerseits interpretieren, führt die Protagonisten des Films in abstruser Form zu existenziellen Entscheidungen. Und sehr konkret zu der Frage, wie man sein Leben überhaupt in den Griff kriegen kann.

Der Film beginnt zunächst scheinbar belanglos. Ein Großvater in Estland sucht mit seiner Enkelin einen Fahrradhändler auf, um ihr ein Rad zu Weihnachten zu schenken. Als sie ein rotes Modell angeboten bekommt, lehnt die Enkelin ab. Sie hätte lieber ein blaues. Der Verkäufer greift wenig später zum Telefon.

In der nächsten Szene knackt ein vermummter Mann das Schloss eines blauen Damenrads, verfrachtet dieses in einen Transporter und verschwindet. Das Rad, erfährt man bald darauf, gehörte einer Schülerin in Dänemark namens Ma­thilde (trotzig gefasst: Andrea Heick Gadeberg). Am nächsten Morgen will ihre Mutter sie zur Schule fahren, doch das Auto springt nicht an.

Der geschasste Informatiker

Dann ruft auch noch der Vater an, Markus (trotzig stoisch: Mads Mikkelsen), Berufssoldat im Afghanistaneinsatz. Seine Mission verlängert sich unerwartet um drei Monate. Aus Enttäuschung fahren die beiden mit dem Zug in die Stadt, um sich abzulenken.

Im selben Zug sitzt auch Otto (wunderbar paranoid: Nikolaj Lie Kaas), frisch geschasster Informatiker. Er hatte seinem Unternehmen einen Algorithmus präsentiert, der über einen sehr langen Zeitraum sehr viele Daten ausgewertet hat, um zu der Aussage zu gelangen, dass Menschen der unteren Einkommensklassen KIA-Autos fahren, Leute mit hohen Einkommen hingegen Mercedes. Otto bietet Mathildes Mutter seinen Sitzplatz am Fenster an, stellt sich in den Gang. Kurz darauf kracht es, der Waggon ist mit einem anderen Zug kollidiert. Dort, wo eben noch die Mutter saß, klafft ein Loch.

Aus dieser nicht gerade wahrscheinlichen Konstellation erzeugt Anders Thomas Jensen dunkel glimmende Funken von Aberwitz, wenn er Ottos Wege mit denen von Mathilde und Markus in sehr unerwarteter Weise zusammenführt. Jensen hatte Mads Mikkelsen in seiner ebenfalls schwarzen Komödie „Adams Äpfel“ von 2005 seinerzeit in einer böse komischen Rolle als Nächstenliebe lebender Pastor besetzt. Diesmal lässt er seinen Hauptdarsteller als Markus weniger passiv auftreten. Die lange Zeit in Konfliktgebieten hat bei diesem schon Spuren hinterlassen, hinzu kommt das Trauma des Verlusts seiner Frau.

Otto will eine verdächtige Person im Zug gesehen haben, die vor dem Unfall ausstieg

So ist Mathilde den Angeboten von Psychologen gegenüber zwar aufgeschlossen, der vorzeitig vom Einsatz zurückgekehrte Markus allerdings will nichts davon wissen. Er meint sein Leben auch so bewältigen zu können. Therapie gehört nicht zu den Lösungsansätzen, mit denen er vertraut ist.

Statistik und Paranoia

Dann steht plötzlich Otto vor seiner Tür. Der hatte im Zug einen Nazitypen beobachtet, der bald als Zeuge im Prozess gegen eine Rockergang, die „Riders of Justice“, aussagen sollte. Otto will noch eine verdächtige Person im Zug gesehen haben, die kurz vor dem Unfall ausstieg. An einen Unfall kann er nicht glauben, auch wenn die Polizei seine Hinweise nicht weiter ernst nimmt. Markus hingegen hat sehr offene Ohren für Ottos Geschichte, in der statistische Überlegungen viel Raum einnehmen.

Mit der Unterstützung von zwei weiteren Informatikerfreunden, die alle online verfügbaren Daten von Überwachungskameras und dergleichen auf mehr oder minder legalem Weg zusammentragen, kommt Otto auf eine Verbindung der verdächtigen Person zu den Nazi-Rockern. Von da an nehmen die drei, Achtung, Klischee, psychisch auffälligen Computernerds gemeinsam mit dem militärisch operierenden Markus die Dinge in die Hand. Was Jensen mit herrlich neurotischen Dialogen, ergänzt um sehr eigenwillige Verhaltensweisen, für reichlich Situationskomik nutzt.

„Helden der Wahrscheinlichkeit“. Regie: Anders Thomas Jensen, Mit Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas u. a. Dänemark 2020, 116 Min.

Irgendwann kommen die unwahrscheinlichen Freunde zwangsläufig an den Punkt, an dem ihre Vorgehensweise sich an der Realität bricht, dass man einen Verlust weder wegrechnen noch durch daueraktive Verdrängung lange unter der Decke halten kann. Am Ende landet diese Zusammenkunft von Versehrten, gegen alle Plausibilität konstruiert, bei sehr elementaren Fragen wie der von Trauer und dem Umgang mit seelischen Wunden. Dass Jensen auf dem Weg dahin das eine oder andere Feuergefecht mit Nazis in die Handlung einbaut, geht für den Film allemal in Ordnung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.