Bildungsaufstieg und Leh­re­r:in­nen: Stress in der Schule

Woran entscheidet sich, wer sozial aufsteigt und wer nicht? Engagierte und fördernde Lehrkräfte machen zweifellos einen Unterschied. Aber reicht das?

Illustration von drei Schulkindern, die an ihren Pulten sitzen

Le­he­re­r:in­nen können zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen Foto: Malte Mueller/imago

Fast alle der wenigen Kinder aus mi­gran­ti­schen Arbeiterfamilien auf meinem Gymnasium hatten Stress in der Schule. Von Jahr zu Jahr wurden sie weniger, sie gaben auf oder flogen raus. Dass ein paar überhaupt das Abitur schafften, lag sicher auch an einer Lehrerin, die es hinbekam, zu manchen von ihnen durchzudringen, und die sich dann für sie einsetzte.

An diese Geschichte der ehrenhaften Lehrerin, die die Arbeiterkinder gegen alle Widerstände zum Abitur trug, denke ich gern. Ich mag sie, weil sie zeigt, dass unser Schulsystem eben nicht gerecht ist; dass die, die das Abitur doch schaffen, viel Glück brauchen, etwa in Form einer Begegnung mit einer fördernden Person. Gerade Personen, die selbst aus Arbeiterfamilien kommen, davon bin ich intuitiv überzeugt, machen als Lehrkräfte so einen Unterschied.

Aber diese Geschichte, die für mich eigentlich die romantische Erzählung der Bildungsgerechtigkeit dekonstruiert, ist selbst romantisch. Das zeigt eine Studie der For­sche­r:in­nen Charlotte Ostermann und Martin Neugebauer, die dort die These der Klassensolidarität von Leh­re­r:in­nen gegenüber Schü­le­r:in­nen anhand Daten der Pisastudie 2003/04 widerlegen. Schü­le­r:in­nen aus Arbeiterfamilien bekamen demnach keine besseren Noten bei Lehrkräften ähnlicher sozialer Herkunft. Auch wurden sie von ihnen weder besser unterstützt noch weniger benachteiligt.

Als „Mittel der Reduktion sozialer Bildungsungleichheiten“ seien sie deshalb nicht geeignet. Es gebe sogar eine Tendenz, dass diese Lehrkräfte von allen Schü­le­r:in­nen als weniger unterstützend wahrgenommen würden, weil sie besonders streng seien. Vermutlich, weil sie für ihren eigenen Bildungsaufstieg besonders fleißig und diszipliniert sein mussten, so die Autor:innen.

Identifikationsfigur nicht ausreichend

Auch die französische Philosophin Chantal Jaquet beschäftigt sich mit der Rolle von Lehrkräften. In ihrem Buch „Zwischen den Klassen“ fragt sie, was letztendlich den Unterschied macht zwischen jenen Arbeiterkindern, die aufsteigen, und solchen, die es nicht tun. Den sozialen Aufstieg bezeichnet sie als „so­zia­le Nicht-Reproduktion“. Anhand prominenter Namen wie der Schriftstellerin Annie Er­naux illustriert sie, wie wichtig Lehrpersonen als Identifikationsfiguren sein können. Strukturelle Faktoren wie das „schulische Modell zusammen mit ökonomischen und pädagogischen Hilfestellungen“ wiegen für Jaquet aber schwerer, wenn auch sie nicht allein entscheidend sind.

Als historisches Beispiel nennt sie, dass in Frankreich mit eigens dafür geschaffenen Institutionen gezielt Kinder aus unteren Klassen für den Le­hrbe­ruf rekrutiert wurden und so sozial aufgestiegen sind. Über Lehrpersonen schreibt sie: „Die Präsenz eines anderen Lebens reicht nicht aus, um einen Mechanismus der Nicht-Reproduktion auszulösen.“

Ich erinnere mich trotzdem gern an die Lehrerin auf meiner Schule. Vielleicht schreibe ich ihr mal einen Brief und bedanke mich.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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