Wahlspektakel oder Wahlkrampf?

So viel Wahl gab es noch nie auf einmal: Sechs Kreuzchen sind zu vergeben. Zwei Tage vor dem großen Wahlsonntag zieht
die taz.berlin eine erste Bilanz. Was war gut, was war schlecht in diesem Wahlkampf? Das sind die großen Tops und Flops

Man entkommt den Po­li­ti­ke­r*in­nen derzeit kaum: Straßenwahlkampf in Prenzlauer Berg Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Achtung, Stauwarnung Die Landeswahlleitung mahnt zu Geduld am Wahlsonntag: Es kann zu Schlangen vor den Wahllokalen kommen. Denn am 26. September finden in Berlin vier Abstimmungen gleichzeitig statt: die Bundestagswahl, die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, die Bezirksverordnetenversammlungen, der Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Insgesamt sind das, mit Erst- und Zweitstimmen, sechs Kreuze, die jede*r zu verteilen hat. Das dauert, selbst wenn man nicht mehr nachdenken muss in der Wahlkabine.

Mit freundlichen Grüßen Briefwahl ist beliebt: Ein Drittel der wahlberechtigten Berliner*innen haben laut Landeswahlleitung bereits abgestimmt. Ein Rekordanteil. Ab Freitag sollten Briefwähler*innen ihren Wahlbrief selbst zum Bezirkswahlamt bringen, damit die Unterlagen rechtzeitig ankommen und bei der Auszählung des Wahlergebnisses berücksichtigt werden können.

Erste Hilfe Wer die Wahlberechtigung verlegt hat, erfährt unter der Nummer 90223-1850, wo sein Wahllokal ist. Zur Wahl reicht dort dann ein amtliches Ausweisdokument. (akl)

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Es wird eine Frau Berlin bekommt, sehr vermutlich, die erste Bürgermeisterin seiner Geschichte. Das Duell von Bettina Jarasch (Grüne) und Franziska Giffey (SPD) hat diesen Wahlkampf geprägt. Und das Schöne ist: Niemanden interessiert die Frauenfrage. Auch im konservativeren Boulevard traut sich offenbar niemand mehr, Zuschreibungen über einen „männlichen“ oder „weiblichen“ Wahlkampfstil zu treffen, weil das selbst einer Le­se­r*in­nen­schaft außerhalb der grün-linken Blase als zu plump erscheinen könnte. Auch schön: Giffey konnte Kostüm und Perlenohrringe tragen, und (fast) niemanden hat diese für Berliner Verhältnisse durchaus eigenwillige Kleiderwahl interessiert. Das hatte Stil.

CDU mit Niveau Was das Niveau dieses Wahlkampfs angeht, musste man das Schlimmste befürchten, vor allem von der CDU. Die hatte mit einem im Parkverbot auf der Hermannstraße abgestellten Lamborghini mit aufgeklebten Einschusslöchern zum harten Einsatz gegen Clans aufgerufen und mit schlüpfrigen Schenkelklopfern die Verkehrspolitik der Grünen kritisiert. All das aber war lange vor der heißen Wahlkampfphase. Als es dann wirklich ums Kämpfen ging, gaben sich die Union und Kai Wegner brav und handzahm. Das Ergebnis dürfte entsprechend ausfallen. Dafür ein doppeltes Danke.

Bildungsstadt Berlin Der Bildungsstandort Berlin kann Selbstverteidigung: Der FU-Professor für Sprachwissenschaft, Anatol Stefanowitsch, sträubt sich mit Händen und ausgewerteten Fußnoten dagegen, dass Franziska Giffey (SPD) Regierende Bürgermeisterin wird. Auch weil diese damit in Personalunion Wissenschaftssenatorin wäre, hat Stefanowitsch ihre Abschlussarbeit geprüft. Ergebnis: Nicht nur in ihrer Doktorarbeit, sondern auch in ihrer Masterarbeit hat sie vielfach abgeschrieben, ohne das ausreichend zu kennzeichnen. Damit darf Giffey nur noch den Titel M.P. tragen: Master of Plagiarts.

NPD-Totalversagen Nachdem der AfD-Überläufer und damit bundesweit einzige NPD-Abgeordneter Kay Nerstheimer nach einer taz-Recherche im Vorwahlkampf seine Schusswaffen abgeben musste, hörte man gar nichts mehr von den Neonazis. Bis Dienstag: In der Bundeszentrale in Köpenick gab es eine Hausdurchsuchung, die sich gegen den NPD-Vize Oliver Niedrich richtete – es geht um Besitz von Missbrauchsdarstellungen von Kindern. Gut, dass wir gegen die Todesstrafe sind, nech.

flop

Floskel-Alarm „Dadurch entstehen keine neuen Wohnungen.“ Das häufigste Argument gegen den Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen ist zugleich das dümmste. Als würde man der Forderung nach Tempo 30 vorwerfen, dass dadurch kein neuer Fahrradweg entsteht. Also, zum Mitschreiben, Frau Giffey: Durch die Vergesellschaftung soll kein neuer Wohnraum entstehen, sondern bestehender geschützt werden; das gilt für alle mietenpolitischen Maßnahmen. Neubau ist ein eigenes Thema; das kann nur die Politik leisten, nicht die Bewegung.

Lauer Protest Der Wahlkampfsommer der sozialen Bewegungen sollte Themen setzen und Druck auf die Parteien ausüben. Gekommen sind wenige. Die Unteilbar-Demo versammelte zwar Hunderte Organisationen, aber kaum mehr als deren Hauptamtliche. Demos für Umverteilung und gegen Privatisierungen blieben im dreistelligen Bereich. Einzig die Mieterbewegung brachte zumindest ihre Basis auf die Straße. Den Eindruck einer wenig aktiven Zivilgesellschaft, die konservative Po­li­ti­ke­r*in­nen müde weglächeln können, kann jetzt nur noch der Klimastreik retten.

Rot-roter Zoff Angeblich will die Linkspartei gern mit SPD und Grünen weiterregieren. Doch ihre Landesvorsitzende, Katina Schubert, hat im Wahlkreis alles gegeben, um SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey, mutmaßlich ohnehin keine Freundin eines solchen Bündnisses, endgültig zu vergraulen. „Allgemeines Blaba“ warf Schubert Giffey polternd vor, als „Populistin“ beschimpfte sie die SPDlerin.

SPD und CDU im Gleichklang Das Tempelhofer Feld sei größer als der Central Park. Da sei eine Randbebauung drin (klar mit neuem Volksentscheid), sagte Franziska Giffey im taz Talk. Das hatte fast wortgleich Kai Wegner ein paar Tage vorher auch schon dort gesagt. Auch sonst klingen sie oft wortgleich. Hat Bingo-Potenzial.

Plakate-Wirrwarr Eigentlich sollen Plakate ja Hin­gu­cke­r*in­nen sein. Aber angesichts von teils fünf oder sechs Gesichtern, die einen von den Laternenmasten anlächelten, blieb von den Parteipostern wenig mehr hängen als: Es ist bald Wahl. Aber welche? Kaum jemand blickte durch, für welches Parlament – Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirk – die jeweilige Kan­di­da­t*in antreten wollte. Klares Ergebnis dieses 26. September: 4 Abstimmungen an einem Tag sind nicht vermittelbar.