Das Gefühl London

Seit Donnerstag lebe ich nun in einer Stadt, die zum Ort eines Terrorangriffs geworden ist. Anders als vorher scheinen sich die Menschen hier jetzt zu misstrauen. Das macht mir Angst. Denn wenn das Konzept der vielen sich akzeptierenden Kulturen und Subkulturen auf engem Raum nicht mehr funktioniert, wird auch diese Stadt bald nicht mehr funktionieren

AUS LONDON JULIA GROSSE

Als Freunde aus Madrid und New York plötzlich anriefen und sagten, dass sie dieses Gefühl der beunruhigenden Leere in diesem Moment gut kennen würden, da merkte ich, dass sich etwas verändert hatte. Seit Donnerstag lebe ich nun in einer Stadt, die zum Ort eines Terrorangriffs geworden ist. Plötzlich riefen im Minutentakt Menschen an und fragten, wie es einem gehe, immerhin sei gerade Londons „9/11“ geschehen. Im Laufe des Tages verdichteten sich die Vermutungen, es handele sich eindeutig um einen terroristischen Anschlag in der Handschrift von al-Qaida oder Sympathisanten. Bisher sind das alles Spekulationen.

Die Angst war versteckt

Doch was bedeutet es und was verändert dieser 7. Juli wirklich an meiner Beziehung zu dieser Stadt, für die ich mich aus ganz bestimmten Gründen entschieden hatte? Im Grunde verändert es im ersten Moment nichts, denn diese Angst, die ich zwischen viel Optimismus und Alltagsstress immer wieder irgendwo verstecken konnte, war dennoch da. Ich habe mich darauf vorbereitet, dass es geschehen könnte, bin selten am Oxford Circus gewesen und bin vor allen Dingen nie U-Bahn gefahren, sondern immer nur Bus. Gestern sah ich dann die Bilder des aufgerissenen Doppeldeckers, die durch die Nachrichten gingen. Eines der Symbole Londons.

An der Oberfläche vermittelt die Stadt zunächst einmal Misstrauen, verfügt über ein erschreckend ausgebautes Kameraüberwachungssystem und behandelt seine Bürger mit dem Spruch: „Guilty until proven innocent“. Du bist schuldig, so lange du uns nicht von deiner Unschuld überzeugt hast. Dabei lebt und funktioniert gerade unter dieser Oberfläche die ganze Stadt vor allem über Gelassenheit und Vertrauen: Die Tatsache, dass täglich fast drei Millionen Menschen die U-Bahn benutzen und sich auf dem Brixton Market oder am Oxford Circus Schulter an Schulter durch die Straßen quetschen, zeigt zwar auch, wie abhängig man in London von Einrichtungen, von Konsum, aber auch Verkehrssystemen ist, die einen zum Job transportieren. Doch es ist auch diese Gelassenheit, mit der man hofft, dass dieses offene System aus Millionen von Leuten innerhalb hunderter Mikroökonomien und Kulturen jeden Tag wieder aufs Neue funktioniert.

Vielleicht ist es auch gerade das, was London für uns vielleicht bis heute so faszinierend macht. So bringt diese Gleichzeitigkeit unzähliger Kulturen, die hier nebeneinander leben und sich in Akzeptanz tolerieren, seit Jahrzehnten die unglaublichsten kulturellen Einflüsse hervor, verehrten Punks die Rastafaris, deren Eltern in den Fünfzigerjahren von den Westindischen Inseln immigriert waren, sind indische Technohits in den englischen Charts und schwarze Grime-Musiker wie Dizzee Rascal ein repräsentativer Teil englischer Popkultur. Diese Demografie der Gleichzeitigkeit zieht uns an und fasziniert uns, seit wir als Teenager mit dem Reisebus nach London fuhren. Hier spielten an einem Abend mehr unglaubliche Bands als in Hamburg in einem Monat, hier gab es schon in den frühesten Neunzigern Raves in Tiefgaragen und Ecstasy mit kleinen, roten Herzen bedruckt, das geschluckt wurde wie eine Wunderwaffe gegen die Erschöpfung nach der viel zu langen Afterhour.

Das ist über zehn Jahre her, und das vielleicht Erstaunlichste daran ist, dass viele Freunde heute immer noch kommen, um dieses Gefühl der Nähe zu ihrer Stadt, die sie seit der Teenagerzeit besuchen, zu spüren. Sie kommen und wollen zu erst einmal in einen Plattenladen, dann auf den Portobello-Road-Trödel, später auf ein UK-Garage-Konzert und dann zum Bengalen Curry essen in Londons „Schanzenviertel“ Brick Lane. Sie schwärmen von Londons Rückkehr zur akustischen Musik und deren jungen, gebrochenen Helden wie The Libertines oder Franz Ferdinand, die ja eigentlich gar nicht aus London sind. Stylistinnen und Moderedakteurinnen halten sich einen halben Tag frei, um bei Top-Shop Dinge zu kaufen, von denen sie schwören, sie vor einem Monat auf dem Laufsteg in Paris gesehen zu haben. Und so halten sie alle einen Lebensstil des subkulturellen Konsumierens aufrecht, den man vor allem in den Neunzigerjahren nirgendwo erfüllter sah als in London.

Sehnsucht nach Subkultur

Dabei ist uns das „Gefühl London“ heute viel näher gerückt, es gibt eBay und große Ketten, und alles ist längst globalisierter als noch vor zwanzig Jahren, wo es wirklich nur den Camden Market gab, wenn man neonrotes Färbemittel für die Haare bekommen wollte. Und natürlich wissen sie das auch, die ganzen London-Lifestyle-Melancholiker, und doch wollen sie einen besuchen, um genau jene nostalgische Sehnsucht nach einer großen, geheimnisvollen Subkultur aufrecht zu erhalten, die man ja selbst einmal in dieser Stadt suchte. Doch sobald man hier lebt, erkennt man auch, wie perfekt London die Gleichzeitigkeit der Kulturen und die daraus entstandenen, unzähligen Mikroorganismen für sein Image nutzt. Und das eben so geschickt, dass man selbst immer wieder auf Werbeanzeigen hereinfällt, die die Codes der Subkultur übernommen und in konsumierbare Popkultur verwandelt haben. Und so ertappt man sich dabei, dass Virgin mit Details aus dem indischen Alltag wirbt und man es nicht trivial-exotisch findet – sondern cool.

Tony Blair weiß um diese kulturelle Differenz und er weiß auch, wie sehr die Stadt von diesem Image lebt, weshalb jährlich tausende von Touristen aus aller Welt an die Themse kommen. Und so hat sein Außenminister Jack Straw gestern darauf hingewiesen, dass sich Anschuldigungen zur Täterschaft nicht an die muslimischen Communities richten, die rechtschaffen in London lebten. Und doch kann es sein, dass gerade das Vertrauen und die Akzeptanz, die diese wertvolle Gleichzeitigkeit in London bis heute möglich machen, durch die Ereignisse von Donnerstag gestört werden. Denn schon jetzt entstehen durch den immer lauter werdenden Al-Qaida-Verweis wieder einmal Ressentiments gegen das „Fremde“, die die kulturelle Gleichzeitigkeit Londons bisher nicht wirklich bedrohen konnten. Dafür gibt es in der Stadt einfach viel zu viele Nationen. Dass in der Londoner U-Bahn eine Muslimin wegen ihrer vollen Verschleierung angepöbelt wird, ist immer noch undenkbar.

Doch muss man nun befürchten, dass die Londoner plötzlich beginnen, einander doch etwas genauer anzuschauen? Als ich am Donnerstagnachmittag im Bus saß, der schon wieder voll war mit Menschen, die schnell nach Hause wollten, spürte ich eine eigenartige Stimmung. Die Leute konzentrierten sich nicht auf sich selbst, wie man es kennt, sondern sie betrachteten und musterten sich gegenseitig, so als trauten sie einander plötzlich nicht mehr. Das war eine Veränderung, die ich als sehr beängstigend empfand. Denn wenn dieses einmalige Konzept der vielen sich akzeptierenden Kulturen und Subkulturen auf engem Raum plötzlich nicht mehr funktioniert, funktioniert auf Dauer auch diese Stadt nicht mehr.

Ob meine Freunde in Deutschland ihre Nähe zu London, diese melancholische Verbundenheit verloren haben durch die Ereignisse von vorgestern, werde ich daran merken, wie oft sie mich in Zukunft noch besuchen werden. Gerade ist hier in der Stadt Summer Sale, jenes irrsinnige Riesenevent, für das Leute mit Geld von Südamerika bis Japan kommen, um tagelang willenlos zu shoppen. Auch meine Freundin aus München hatte sich für kommenden Montag angemeldet. Heute Morgen hat sie abgesagt.