„Die Strategie der Eskalation ist gescheitert“

Vielleicht muss man den Terroristen mit dem begegnen, was sie nicht wollen: Politik. Es gilt, endlich die Konflikte im Nahen Osten zu lösen. Allem voran sollten die undemokratischen Regime in der Region nicht mehr unterstützt werden

taz: Gestern haben manche Experten behauptet: Nicht der Islamismus ist das Problem, sondern der Islam. Kann man es sich so einfach machen?

Navid Kermani: Wenn ich es so sähe wie diese Experten, wäre ich kein Muslim. Und überhaupt: Was wäre die Antwort, wenn sie Recht hätten? Muss man dann den Islam abschaffen? Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn Karadžić im Namen des Christentums Muslime umbringen lässt oder Vertreter der russischen Kirche kaum verhüllt den Genozid an den Tschetschenen gutheißen – soll man dann das Christentum abschaffen?

Nach New York und Madrid hat es jetzt London getroffen. Gibt es eine Logik hinter diesen Anschlägen?

Keine Ahnung. Dafür wissen wir doch zu wenig über diese Anschläge. Wer sagt, dass dieses Bekennerschreiben echt ist? Klar scheint nur: Die Menschen sollen sich hier nicht mehr sicher fühlen. Es soll eine kulturkämpferische Eskalation in Gang gesetzt werden. Warum sonst haben die Attentäter von Madrid eine Korankassette als einziges Zeichen hinterlassen? Was wollen sie damit sagen? Doch wohl, dass der Islam hier am Werke ist, nicht eine bestimmte Gruppe, über deren Anhängerschaft die Geheimdienste nur sehr wenig wissen. Und die Rechnung geht ja auch auf. Die Leute sagen: Wir sind der Islam. Und die Antwort von immer mehr Leuten hier ist: Der Islam ist der Feind. Herzlichen Glückwunsch.

Wenn wir annehmen, dass wieder einmal islamistische Terroristen den Anschlag verübt haben: Ist das nun ein Kampf der Werte?

Ich weiß es nicht. Und wer behauptet, dass er es weiß, soll uns doch mal die Bücher, Manifeste zeigen, aus denen wir das entnehmen könnten. Es gibt ein paar Reden von Bin Laden und ein paar Seiten im Internet, von denen wir nicht genau wissen, wer dahintersteckt. Ein Kampf um Werte würde doch zudem voraussetzen, dass diese Werte von einem großen Kollektiv reflektiert und vertreten werden. Aber es gibt doch, soweit ich sehe, in Europa oder der arabischen Welt keine einzige öffentliche Stimme eines Vertreters von irgendetwas, der sich mit solchen Anschlägen identifiziert. Alles, was ich lese, sind Distanzierungen und Verurteilungen. Aber wer ist denn dann die andere Seite in diesem Wertekampf? Bin Laden? Soll man mit dem eine Wertedebatte führen? Einem ehemaligen Geschäftsmann und heutigen Massenmörder? Den kann man nur bekämpfen.

Kann man nicht aus den Persönlichkeitsprofilen früherer Attentäter etwas über die Hintergründe solcher Anschläge schließen?

Man weiß einigermaßen, wer hinter den Anschlägen in New York und in Madrid steckte. Man weiß es auch im Fall von Theo van Gogh oder bei dem nicht gelungenen Anschlag in Straßburg. Aus den Täterprofilen ergibt sich: Zunächst sind es nicht Muslime als solche, sondern Araber. Das sollte man schon einmal fragen: Warum die und nicht die anderen, die doch in Deutschland viel zahlreicher sind? Dann sind es nicht die Jugendlichen aus den Hinterhofmoscheen, deren Integration gescheitert ist, die sich für den Terrorismus begeistern lassen.

Anfällig für den Terrorismus sind demnach gerade solche Kreise, die vollkommen integriert sind?

Ja, bestes Beispiel ist Mohammed Atta. Hinzu kommen Leute aus einer kriminellen Halbwelt wie in Madrid, illegale Einwanderer, die sich hier mit Drogengeschäften, kleinen Jobs und Diebstählen durchschlagen. Auf jeden Fall sind es meist Menschen, die nicht in ihrem angestammten kulturellen Milieu verankert waren, schon gar nicht einem türkischen, sondern am ehesten vielleicht durch Wurzellosigkeit gekennzeichnet sind. Das sieht man ja auch daran, dass die Bindungen ans Elternhaus oder die traditionellen religiösen Autoritäten bei diesen Leuten oft abgebrochen sind.

Diese Leute kommen anscheinend nicht mit der sich individualisierenden Gesellschaft zurecht. Könnte man sie daher auch als Modernisierungsverlierer bezeichnen?

Das kann man so nicht sagen. Weder außerhalb noch in Europa. Mohammed Atta hat ja erfolgreich studiert und ging samstags zu St. Pauli ins Stadion. Die Attentäter in Madrid waren nicht so erfolgreich, haben sich aber in der Drogenszene offenbar ganz gut über Wasser gehalten. Als Dealer und Kleinverbrecher passen sie nicht ganz in das Schema der Modernitätsgegner. Sie lebten ja in der Modernität Europas. Wie schon gesagt: Ich habe keine Antwort auf das Warum. Ich kann nur darauf hinweisen, dass die meisten Antworten, die gestern oder vorgestern auf allen Kanälen gegeben worden sind, bei näherem Hinsehen nicht besonders weiterhelfen. Ich würde mir wünschen, dass mal jemand vor den Bildschirm tritt und zugibt, dass er nichts weiß.

Wie soll man hier in Europa mit dem Terror umgehen?

Zunächst einmal ist das natürlich keine Aufgabe für Schriftsteller und Kulturwissenschaftler, sondern eine für Polizei und Geheimdienste. Man sollte jedoch im Einzelnen diskutieren, welche Maßnahmen sinnvoll sind und wie weit man Bürgerrechte einschränkt. Mittel- und längerfristig muss man sich aber fragen, woher diese Gewaltbereitschaft kommt. Gibt es dafür wirklich politische, religiöse oder kulturelle Ursachen? Seit dem 11. 9. 2001 hat man nach jedem Terroranschlag immer gerufen: Wir brauchen noch mehr Sicherheit, noch mehr Vergeltung, noch mehr Kulturkampf, noch mehr Kriege. Diese Strategie der Eskalation ist offenbar gehörig gescheitert.

Sollten also nun die Engländer und Amerikaner aus dem Irak abziehen?

Vielleicht sollte man nun machen, was Terroristen überhaupt nicht wollen: Politik. Vielleicht sollte man nicht auf mehr Härte setzen, sondern zugleich die Konflikte lösen, die es in der arabischen Welt oder in Zentralasien wirklich gibt. Dabei geht es natürlich um die Demokratisierung des Nahen Ostens, um das Desaster der Bildungseinrichtungen, die Erstarrung des religiösen Denkens. Aber es geht auch um die altbekannten Krisenherde, um Irak, Afghanistan, Tschetschenien, Usbekistan oder den israelisch-palästinensischen Konflikt. Das sind alles offene Wunden, aber statt sich um Heilung zu bemühen, schauen wir unbeteiligt zu, wie alles noch schlimmer wird, oder unterstützen sogar die herrschenden Gewalttäter. Und dann wundern wir uns noch.

INTERVIEW: DANIEL HAUFLER