Reizüberflutung im Zwischenreich

Mit „Where the Drawings Live“ von Horst-Janssen-Preisträgerin Serena Ferrario beweist die Kunsthalle Hamburg: Was Grafik ist, ist verhandelbar

Unter Palmen verbringen Selena Ferrarios Drawings aus Pappe, Papier und Pasta einen vergnügten Fernsehabend Foto: Christoph Irrgang / Kunstahlle Hamburg

Von Falk Schreiber

Diese Ausstellung sei „ein guter Ausweis, was in der Hamburger Kunsthalle als Grafik verstanden wird“, beschreibt Kunsthallen-Chef Alexander Klar Serena Ferrarios Ausstellung „Where The Drawings Live“: „Erweiterte Grafik, Geschichten erzählende Grafik.“ Man könnte auch sagen: Grafik, die kaum noch als Grafik erkennbar ist.

„Where The Drawings Live“ jedenfalls ist in erster Linie eine große Rauminstallation im Sockelgeschoss der Galerie der Gegenwart, die auch ein paar versteckte grafische Elemente enthält. Wobei die Installation im Zusammenhang mit dem mit 20.000 Euro dotierten Horst-Janssen-Grafikpreis der Claus-Hüppe-Stiftung entstanden ist, und da steht die Genrezuordnung schon im Titel. Also: Grafik. Nun gut.

Ferrario, geboren 1986 im lombardischen Crema, aufgewachsen unter anderem in Rumänien, studierte an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und lebt heute in München sowie in Italien und Rumänien. Ihre Karriere ist ein Migrieren zwischen verschiedenen Heimaten. Ähnlich migriert auch ihre Kunst: von verhältnismäßig traditionellen Kohlezeichnungen über Videos bis hin zur aktuellen Installation in der Kunsthalle, die im Wesentlichen aus zwei langen Holzstrukturen besteht, einer an einen Badesteg angelehnten Brücke, die auf eine Videowand zuläuft, sowie einer Tafel, reich gedeckt mit diversen Objekten.

Nippes, Müll, Spielzeug, Kunst, all das steht zueinander in Beziehung, all das verschwimmt in ein Environment der Erinnerung. In den Ort, an dem die Zeichnungen leben: „Where The Drawings Live.“ Was Ferrario hier baut, ist ein nicht unsympathisches Chaos aus disparaten Elementen, eine Art Lebensraum für ihre Kunst, die sich selbst zu reproduzieren scheint, immer wieder in veränderten Formen auftaucht. Wie die maskenartigen Gesichter, die mal als Kohlezeichnungen durch die Installation geistern, mal als ballonartige Puppenköpfe und mal in die großformatigen Bilder an der Wand integriert sind.

Dazu: die nicht immer ganz geschmackssicheren Pop-Zitate. Die Künstlerin tanzt im Video „We Did This For Thousand Years Part III“ zu Sinéad O’Connors „Nothing Compares 2 U“ im Gegenlicht, zwischen gestapeltem Geschirr in der Küche. Auch das ein Hinweis auf den eklektischen Charakter dieser Kunst, Hingabe, Pop, Chaos in einem Bild.

Oder: die Verweise auf Beatles-Songs, der Titel „All You Need Is Love“, der in einer nicht ganz ernstzunehmenden Montage verfremdet wird, „All You Need Is LSD“. Lustig? Doof? Dass Ferrarios Installation sich hier nicht entscheiden will, ist ein großer Pluspunkt dieser Arbeit.

Die offenen Assoziationsräume gehören zu „Where The Drawings Live“ dazu. Was auf der anderen Seite auch einen Hinweis darauf gibt, wie sich diese Kunst erschließen lässt: als Raum. Es ist kein Wunder, dass die Präsentation als Rauminstallation ausgeführt ist: Das ist Ferrarios eigentliches Metier.

„Könnt ihr nicht

einfach sagen,

dass ich gut aussehe?“

Serena Ferrario, Künstlerin

Bereits als sie Anfang des Jahres in die Endauswahl für das Arbeitsstipendium für Bildende Kunst der Freien und Hansestadt Hamburg kam und im Zuge dessen als Teil der Gruppenausstellung „Nominees“ im Kunsthaus präsentiert wurde, zeigte sie dort eine Videoinstallation, die das Leben zwischen Deutschland, Italien und Rumänien thematisierte. Dieses Leben im Zwischenreich wird durch die Installation optimal abgebildet: als Durcheinander, das sich nicht letztgültig ordnen lässt aber gleichzeitig Bedeutung transportiert.

„Installation aus Leftovers vergangener Ausstellungen“, beschreibt Ferrario die Gesamt-Assemblage, „aufgestellte gezeichnete Figuren auf Pappe od. Papier, digital-analoge Collagen auf Banner gedruckt, Radierungen, Zeichnungen mit Kohle an der Wand, schwarz gesprayte Pasta, Glitzersteine, Souvenirs aus Italien & Rumänien, Tischdecke aus fotokopierten Zeichnungen, Rumänischer Teppich von Oma aus Bukarest“. Und so weiter. Ein Ausufern, ein Überborden.

Beschreiben lässt sich das kaum, erleben nur als Reizüberflutung. Und doch fasziniert diese Arbeit, ihr Stilbewusstsein, ihre Schonungslosigkeit, ihr unübersehbarer Humor: Zum Beispiel hatte die Kiste, die einen chaotischen Haufen Kohlezeichnungsmasken beherbergt, zum Transport von Orangen gedient – und zwar der Marke „Serena“.

„Könnt ihr nicht einfach sagen, dass ich gut aussehe und dass die Zeichnung gut aussieht?“, fragt Ferrario im per Stop-Motion-Verfahren verfremdeten Video „Artist Disorder“, das eine Art künstlerische Selbstverortung sein könnte. „Reicht das nicht?“ Es reicht natürlich ganz und gar nicht, auf der anderen Seite: Soviel weiter kommt man ansonsten auch nicht.

Serena Ferrario, Where The Drawings Live: Hamburger Kunsthalle, Harzen Kabinett. Bis 24. 10.