Experimente im E-Werk

Im Verein ist Kunst am schönsten (5): Zu Recht zählen die Kunstvereine seit 2021 zum immateriellen Weltkulturerbe. Ihre Erkundungs- und Vermittlungsarbeit macht Gegenwartskunst für jeden erfahrbar – noch bevor sie im Museum einstaubt. Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte: Die taz erkundet ihren Beitrag zum norddeutschen Kulturleben in Porträts. Diesmal: Schwerin

Immer wieder neu gedachte, minimalistische zugleich und gestische Abstraktion: Blick in die Ausstellung „Doch.“ von Jenny Brosinski Foto: Edward Greiner

Von Hajo Schiff

Bespielt ein Kunstverein ein Fabrikgebäude von 1903, ist eine interessante Abfolge unterschiedlicher Räume gesichert. Dazu liegt in diesem Fall der Neorenaissance-Industriepalast noch relativ zentral und hat eine eigene Bootshaltestelle am Nordufer des Schweriner „Pfaffenteichs“. Bloß: Die durchaus schöne der Landeshauptstadt ist nicht gerade ein Brennpunkt aktueller Kunst.So hat der engagierte Verein „Kunsthalle im E-Werk“ nur um die 100 Mitglieder. Die Gründung ging 2002 wesentlich auf Anregung von Kornelia von Berswordt-Wallrabe zurück. Bis heute im Vorstand des Vereins, hatte die damalige Direktorin des Staatlichen Museums Schwerin ebendort für viel frischen Wind gesorgt, unter anderem mit Ankauf einer der wichtigsten Sammlungen von Arbeiten Marcel Duchamps für das bis dahin vor allem für seine niederländischen Kleinmeister bekannte Museum. Aber ein Platz für junge, auch experimentelle Kunst fehlte.

Fanden die Aktivitäten des neuen Kunstvereins die ersten Jahre über an verschiedenen Orten statt, sogar im Dom, stehen ihm seit 2007 etwa 250 Quadratmeter im Nordwestflügel des renovierten ehemaligen Elektrizitätswerks zur Verfügung. Andere Teile des Hauses nutzen das Mecklenburgische Staatstheater und das Puppentheater Schwerin.

Abstraktion und Apparate

Seit Ende 2018 leitet den Verein Nadine Grünewald, zuvor im oberschwäbischen Kunstmuseum Ravensburg mit Expressionismus und den malerisch „wilden“ Gruppen Spur und Cobra befasst. Auf welchen Aspekt der heutigen Kunst sie bei den jährlich etwa fünf Einzel- und thematischen Gruppenausstellungen einen Schwerpunkt legt, zeigt sich beispielhaft im derzeitigen Gastspiel von Jenny Brosinski: Metergroße Leinwände und plastische Wandobjekte zeigen eine immer wieder neu gedachte, zugleich minimalistische und gestische Abstraktion, trotz einzelner Schriftelemente und aufscheinender Bildhaftigkeit sehr reduziert und oft mit Spuren eines rätselhaften längeren Gebrauchs. Dazu spielt die Keramik der in Berlin lebenden Künstlerin, geboren 1984 in Celle, mit ironisch gebrochener, teils grotesker, kindhaft bunter Figuration. Genauso möglich ist im E-Werk die Erforschung des zeitgenössischen Kunstwerts spröder Materialien: Die Ausstellung „nearly instant, nearly raw“ – Teil 2 steht im September an – überführt handelsüblichen Baumarktbedarf und simple Technik in skulpturale Objekte, Rauminstallationen, kunstvolle Apparaturen und performative Aktionen.

Der vorangegangene Direktor Andreas Wegner setzte die Schwerpunkte vielleicht etwas expliziter politisch, so 2017 mit einem umfangreichen Projekt zu den „Madgermanes“, wie sich die ehemaligen Vertragsarbeiter aus Mosambik bezeichnen, die zwischen 1979 und 1991 in der ehemaligen DDR lebten. Unter Wegners Leitung begann auch die Kooperation mit der Berliner „Gesellschaft der Neuen Auftraggeber“ um Alexander Koch und Gerrit Gohlke, die nach französischem Vorbild gesellschaftliche Gruppen animieren will, Künstlerinnen und Künstler mit der Lösung lokaler bürgerlicher Anliegen zu beauftragen – statt dass wie sonst, erst die Kunst fertig ist und sich dann einem mitunter wenig begeisterten Publikum gegenüber sieht.

So wie das Museum Abteiberg in Mönchengladbach für Nordrhein-Westfalen, ist der Schweriner Kunstverein für Mecklenburg-Vorpommern Ankerpunkt eines Pilotprojekts für mehr Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Kunst. Doch wie bei den meisten Kunstvereinen nimmt Eines auch in Schwerin einen immer größeren Teil der Arbeit von künstlerischer Leitung und Vereinsvorstand ein: das Einwerben weiteren Geldes, zusätzlich zur geringen Förderung durch Stadt und Land; um damit Experimente zu ermöglichen und –neben den regionalen –auch kostspieligere überregionale Postionen zeigen und vermitteln zu können.

Jenny Brosinski – „Doch“: bis 29. 8.; am 17. 9. eröffnet „nearly instant, nearly raw – part II“ (Felix Kiessling, Schirin Kretschmann, Kriz Olbricht; bis 21. 11.); www.kunstverein-schwerin.de