Haiti droht schon die nächste Naturkatastrophe

Fast 1.300 Menschen starben bei dem Erdbeben am Wochenende. Nun wird ein Tropensturm erwartet

Mit einer klaffenden Wunde am Bein sitzt die Frau auf einem Stuhl. Sie ist eine von Tausenden, die bei dem schweren Erdbeben am Samstag in Haiti verletzt wurden. Jetzt wartet sie in einer Ecke der Notaufnahme in Les Cayes. „Diese Frau wartet schon eine ganze Weile darauf, dass ich ihre Wunde nähe. Aber im Moment habe ich keine Schale für das Besteck“, sagt der Arzt Rudolphe Steven Jacques. Das Krankenhaus ist völlig überlastet, es fehlt an Material.

Nach dem Beben der Stärke 7,2 von Samstagmorgen (Ortszeit) hat sich die Zahl der bisher gemeldeten Opfer nach Behördenangaben von zuletzt 724 auf fast 1.300 erhöht. Das Beben ereignete sich rund 12 Kilometer von der Gemeinde Saint-Louis-du-Sud entfernt in einer Tiefe von rund 10 Kilometern.

Zahlreiche Gebäude wurden zerstört und Menschen unter Trümmern begraben. Es gebe mehr als 5.700 Verletzte, berichtete die Zeitung Le Nouvelliste unter Berufung auf den Zivilschutz. Mindestens 13.700 Häuser wurden demnach zerstört und ebenso viele beschädigt. Mehr als 30.000 Familien seien betroffen, hieß es weiter in dem Bericht.

In und um die Klinik in der Stadt Les Cayes nahe dem Epizentrum kauern Verletzte auf Stühlen, liegen auf Bänken oder einfach auf dem Boden und hoffen auf Hilfe. „Zum Zeitpunkt des Bebens gab es hier nur drei Ärzte“, sagt Michelet Paurus. Er war einer von ihnen. „Inzwischen wird es besser, wir haben Verstärkung durch Orthopäden, Chirurgen und 42 Assistenzärzte bekommen, die auf die Krankenhäuser der Region verteilt werden.“

Ärzte und Patienten drängen sich in den kleinen Behandlungszimmern. „Es kommen immer noch mehr Verletzte aus entlegenen Gebieten. Damit hatte ich nicht gerechnet“, sagt der junge Arzt Jacques, der aus der Hauptstadt Port-au-Prince angereist ist, um den Erdbebenopfern zu helfen. „Wir geben unser Bestes, um die Menschen zu versorgen“, sagt der 26-Jährige.

Viele Patienten müssen nach der Behandlung zur Beobachtung bleiben. Viele von ihnen warten lieber auf dem Rasen im Freien als im Krankenhaus – aus Angst, es könnte bei einem Nachbeben einstürzen. „Aber heute Nacht wird es regnen“, sagt Klinikarzt Paurus, während er von einer Abteilung zur nächsten hetzt.

Während die Hilfe für die Verletzten, Traumatisierten und Hinterbliebenen des Erdbebens gerade erst anläuft, droht bereits die nächste Naturkatastrophe. Meteorologen warnen vor Starkregen, heftigem Wind und Schlammlawinen durch den Tropensturm „Grace“, der am Montagabend erwartet wurde. Das US-Hurrikan-Zentrum warnte vor Überschwemmungen und Erdrutschen.

„Wenn es so viel regnet wie vorhergesagt, wissen wir wirklich nicht, was wir tun sollen“, sagt Paurus. „Ein Schlag nach dem anderen – wir können nicht mehr.“ (afp, dpa)

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