20 Jahre 9/11: Als keine Pepsi mehr kam

Amer al-Wafi und Sara al-Ichwān wachsen als Kinder in Saudi-Arabien auf, als ihre Eltern 2001 damit beginnen, US-Produkte zu boykottieren.

Eine Burqa-Trägerin in einem Supermarkt in Dubai

Nach dem 11. September 2001 boykottierten viele Saudis Waren aus den USA Foto: reuters

Amer al-Wafi weiß noch, dass er etwa neun war, als die wöchentliche Pepsi im Haus seiner Eltern im saudi-arabischen Dschidda einige Monate lang durch ein lokales Erfrischungsgetränk ersetzt wurde. An die Marke kann er sich nicht mehr erinnern. „Ich glaube gar nicht einmal, dass ich als Kind so viele Softdrinks getrunken habe, es ist einfach nur die stärkste Erinnerung an diese Zeit“, sagt er auf die Frage, wie sich das Leben für ihn persönlich nach dem 11. September 2001 verändert hat.

„Ich war ja noch ein Kind, dem vor allem an seinen zuckerhaltigen Getränken lag. Ich weiß nur noch, dass sich meine Eltern nach der Invasion Afghanistans weigerten, amerikanische Produkte zu kaufen.“ Es ging nicht nur um Softdrinks: Wie viele andere startete die Familie wenige Wochen nach dem 11. September 2001, als US-Truppen in Afghanistan einmarschiert waren, einen Boykott aller amerikanischen Produkte.

„Ist es schlimm, dass eine Cola das Erste ist, was mir einfällt, wenn Sie mich danach fragen?“, sagt Amer al-Wafi. „Vermutlich haben sie auch keine anderen US-Produkte mehr gekauft. Aber dann haben sie wahrscheinlich gemerkt, dass sich das nicht durchhalten ließ, weil in Saudi-Arabien fast alles importiert wird. Vermutlich haben sie’s irgendwann aufgegeben. Und als sie merkten, dass das Leben ganz normal weiterging, hat wohl auch ihre Wut nachgelassen.“

Boykotte haben Tradition

Boykotte ausländischer Produkte sind in der arabischen Welt nichts Ungewöhnliches. Am bekanntesten ist die von Palästinensern geführte BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) gegen Israel. Zwar wurde die Organisation offiziell erst 2015 gegründet, doch wenn ein Land Israel unterstützte, reagierten die Menschen in Saudi-Arabien und anderen arabischsprachigen Ländern schon früher häufig mit einem informellen Boykott.

Die Einstellung gegenüber Israel mag sich in letzter Zeit stark gewandelt haben; in den frühen 2000er Jahren jedoch fand der Boykott von US-Produkten wegen der US-Unterstützung Israels in Saudi-Arabien großen Anklang. 2003 rief sogar der Prediger Scheich Omar bin Saeed al-Badna aus Riad zum Boykott von McDonald’s, Pampers, Marlboro und anderen US-Produkten auf und erklärte, das sei gut für die Wirtschaft des Königreichs.

Und obwohl die durch die Kriege in Afghanistan und im Irak ausgelösten Boykotte nicht die gleiche Aufmerksamkeit und den gleichen Rückhalt fanden wie der gegen Israel, bedeuteten sie zahlreichen Menschen in der Region, auch in Saudi-Arabien, zu Beginn der Invasionen sehr viel.

„Abgesehen von den kurzen Boykottmaßnahmen fällt mir nicht viel ein, wie sich mein Leben unmittelbar nach 9/11 verändert hat“, sagt al-Wafi. „Ich war ein Kind in einer muslimischen Jungenschule in Dschidda, was sollte sich für mich verändern? Inzwischen weiß ich, dass sich die Welt von Grund auf verändert hat, aber für mich persönlich blieb alles beim Alten – abgesehen von den häufigeren Gesprächen über das Weltgeschehen, die ich zu Hause mitbekam.“

Al-Wafi weiß noch, wie er vor 20 Jahren mit Tante, Onkel, Cousins und Cousinen die Nachrichten im Fernseher sah. „Meine Tante und mein Onkel wirkten sehr besorgt“, sagt er. „Ich wusste ja, dass in den Nachrichten ständig schlimme Dinge passierten, aber noch nie hatte ich Erwachsene gesehen, die so davon in Aspruch genommen waren, und das machte mir Angst.“

Wie die kleine Sara al-Ichwān Angst bekommt

Die in Riad lebende 26-jährige Sara al-Ichwān hatte ähnliche Sorgen. „Mein erster Gedanke war: Das sieht schlimm aus, aber es stürzen doch ständig Flugzeuge in Gebäude“, sagt sie. „Ich habe nichts verstanden. Und ich konnte nicht ahnen, dass dies einer der folgenschwersten Momente der modernen Geschichte werden würde.“

Wie al-Wafi erinnert sie sich an die vielen Gespräche, in denen die Erwachsenen die US-Außenpolitik und den Einmarsch in Afghanistan kritisierten, und an die kurze Zeit, als weder ihre Eltern noch die ihrer Freunde amerikanische Produkte kaufen wollten. „Ich weiß noch, dass uns mein Vater zu meinem Geburtstag nicht zu Pizza Hut mitnahm und uns ausdrücklich sagte, wir dürften keine US-Produkte unterstützen, weil die Amerikaner in muslimische Länder einmarschierten. Aber ich glaube, das hielt nur ein paar Wochen an, bestenfalls Monate.“

Al-Ichwān erinnert sich auch daran, dass sich die Erwachsenen von da an mehr Sorgen um ihre Cousins in den USA und Großbritannien machten und die Gespräche sich zunehmend darum drehten, wie entfremdend es für Muslime sein kann, in einem Land zu leben, in dem sie nicht die Mehrheit bilden. „Ich glaube, für viele Durchschnittsbürger in Saudi-Arabien war 9/11 eher ein Beweis für die unverblümte Islamophobie des Westens und die von ihm geführten Kriege – weniger für religiösen Extremismus“, sagt al-Ichwān.

Obwohl die meisten Attentäter aus Saudi-Arabien stammten, gab es nur wenig Druck aus dem Ausland, den religiösen Extremismus innerhalb des Königreichs zu bekämpfen. Kashif Mumtaz vom Institut für Strategische Studien Islamabad weist darauf hin, dass viele anfängliche Gespräche über Reformen auf staatlicher Ebene dazu dienten, „den Druck in Reden umzuleiten, statt zu handeln“.

Erst 2003, als im Rahmen einer „Kampagne gegen die Verwestlichung“ Saudi-Arabiens zwei große Bombenanschläge auf Wohnanlagen in Riad verübt wurden, bei denen 27 Menschen ums Leben kamen, wurde der Terrorismus auch in Saudi-Arabien selbst zum Thema. Zwar verließen zunächst viele Ausländer das Land, doch im Großen und Ganzen wurden Terrorismus und extremistische Gewalt vor Ort zügig bekämpft und sind seitdem nicht mehr die größte Sorge.

Sara al-Ichwān, 24-jährige Schiitin

„Ich hatte große Angst, wenn mein Vater aus dem Haus ging“

„Ich erinnere noch, dass ich jedes Mal, wenn mein Vater aus dem Haus ging, große Angst hatte“, sagt eine 24-jährige pakistanische Schiitin, die in der Ostprovinz Saudi-Arabiens lebt, einem der wenigen Landesteile mit einer bedeutenden schiitischen Bevölkerung. „Ich schätze, als Schiitin in einem Land mit sunnitischer Mehrheit hast du immer Angst, aber ich erinnere mich an die frühen 2000er Jahre, als ich noch sehr jung war, da schienen meine Eltern viel besorgter zu sein, und wenn ich etwas davon mitbekam, vervielfachte sich meine Angst. Ich hatte Sorge, jemand könnte eine Bombe unter das Auto meines Vaters legen – was albern ist, denn politisch war er nicht engagiert, aber das verstand ich damals natürlich nicht.“

Im Mai 2015 verübte der IS zwei Selbstmordattentate in schiitischen Moscheen in der Ostprovinz, bei denen etwa 20 Menschen getötet wurden. „Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass meine Ängste als Kind nicht so paranoid waren, wie ich dachte“, fügt sie hinzu. „Manchmal verstehe ich die Angst der Menschen vor terroristischen Bedrohungen besser als die meisten meiner muslimischen Freundinnen, weil ich Schiitin bin. Damit will ich keineswegs die Islamophobie rechtfertigen, die nach 9/11 salonfähig wurde. Aber ich glaube, mehr als die meisten meiner sunnitischen Freundinnen, die sich deswegen nie große Sorgen machen mussten, sehe ich den religiösen Extremismus als Problem an. Nicht, dass ich die widerwärtige Islamophobie und den Rassismus im Westen verteidige; vielmehr fordere ich Muslime auf, mehr Gespräche über die Probleme in ihrer eigenen Gemeinschaft zu führen.“

Al-Ichwān und al-Wafi glauben nicht, dass sie in ihrer Jugendzeit mit Debatten über religiösen Extremismus in Berührung gekommen sind. „Ich will nicht defensiv klingen, aber weshalb sollte sich meine Familie zusammensetzen und religiösen Extremismus an sich verurteilen?“, fragt al-Ichwān. „Die meisten von uns sind nicht einmal besonders religiös, es gab einfach keine Veranlassung, darüber zu reden. Aber ich hatte Cousins in den USA und in Großbritannien, die mit Islamophobie zu kämpfen hatten. Das war eine Erfahrung, mit der wir vertraut waren und über die wir uns öfter unterhielten.“

Al-Wafi hingegen hat „ein oder zwei Onkel“, die sich gelegentlich zu al-Qaida als einer Organisation, die „die Muslime vor dem Westen schützt“, bekannten. „Die sind mundtot gemacht worden und gelten als verwirrt“, sagt er. „Ich meine, jeder hat einen verrückten Onkel, oder? Sie spiegeln die Meinung der meisten Menschen, die ich kenne und die ziemlich normal sind, nicht wider.“

Auch wenn al-Wafi und al-Ichwān als Kinder mit Diskussionen über Terrorismus nicht oft in Berührung gekommen sind, im heutigen Saudi-Arabien sieht es anders aus. Vor 20 Jahren waren Fragen zu Terrorismus und Terrorabwehr in der Öffentlichkeit kein gängiges Thema – zumindest nicht als Anlass zur Sorge über das Königreich selbst, eher als globales Problem, das man bequemerweise aus der Ferne verfolgen konnte.

In den letzten Jahren tauchte der Begriff „Terrorismus“ in lokalen Debatten jedoch immer wieder auf, so wie es vor 20 Jahren in der ganzen Welt der Fall war. Allerdings wird der Begriff als Instrument verwendet, um jede „staatsfeindliche“ Handlung als terroristischen Akt einzustufen. Das 2014 verabschiedete Antiterrorgesetz sieht fünf bis zehn Jahre Gefängnis für jeden vor, der den König oder Kronprinzen direkt oder indirekt auf eine Weise porträtiert, „die die Religion oder die Justiz in Verruf bringt“.

2017 stellte Human Rights Watch fest, dass Saudi-Arabiens Antiterrorgesetz „vage und zu weit gefasste Definitionen von Terrorakten“ enthält, von denen einige mit der Todesstrafe belegt werden. Mehrere Frauenrechtlerinnen, darunter Loujain al-Hathloul, wurden unter dem Vorwurf des Terrorismus inhaftiert. Letztere soll als Spionin gearbeitet haben.

Lieber nicht über die Inhaftierten sprechen

„Über inhaftierte Aktivistinnen möchte ich nicht sprechen, das ist eine heikle Angelegenheit, aber ich weiß, dass die Regierung sie als Terroristinnen betrachtet“, sagt al-Wafi. „Ich denke, für die Regierung ist jeder, der sich aggressiv gegen sie stellt, ein Terrorist. Ich kenne die Wahrheit nicht, also werde ich mich zu diesem Thema nicht äußern.“

Auch al-Ichwān lehnt es ab, über die weit verbreitete Anwendung des Begriffs „Terrorismus“ auf Aktivistinnen zu reden. „Ich glaube an Frauenrechte, lassen wir es dabei bewenden“, sagt sie. „Im Übrigen denke ich, dass jeder, der die Macht dazu hat, den Begriff ‚Terrorismus‘ verwendet, um zu rechtfertigen, was immer er gerade will. Es ist bequem.“

Aus dem ­Englischen von Hans-Christian Oeser

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