Die große Piep-Show

Warum trägt der kleine Zaunkönig einen royalen Namen? Wie groß ist die Flügelspannbreite eines Albatros? Und sollte man Spatzen wirklich das ganze Jahr über füttern? Unser Autor hat ein Buch über Vögel geschrieben, wir drucken einen Auszug

Ist mit den längsten Flügeln im Tierreich ausgestattet: der Albatros Foto: imago

Von Cord Riechelmann

Vogel-Vorwort

Erschleicht sich mit ihrem Gesang die Duldung in der Menschenwelt: die Amsel Foto: imago

Vögel senden andauernd in unsere Seh- und Hörhorizonte. Tauben nicken und gurren in jeder Stadt an jedem Platz, an dem man sie lässt. Bis zu acht Bruten hat man bei Stadttauben in einem Jahr gezählt. Zu allen Jahreszeiten, auch im verschneitesten Winter. Und in Frankfurt am Main am Albert-Mangelsdorff-Weiher sah man bereits in der zweiten Januarwoche ein Nilganspaar mit gerade geschlüpften, sehr flaumigen Gösseln.

Die Nilgänse Frankfurts halten sich offensichtlich an keine Jahreszeiten mehr, auch wenn sie immer noch vorrangig im Herbst und Winter auf den Dächern ihre Balz- und Paarungsschreie in den frühen Morgen und späten Nachmittag rufen. Stadttauben und Nilgänse – die einen domestiziert und in der Stadt verwildert, die anderen ursprünglich in ganz Afrika beheimatet und hierzulande aus Zoo- und Showzuchten ausgebrochen – haben allerdings keinen guten Ruf. Die Städte wollen sie wieder loswerden, werden es aber nicht schaffen. Sie werden sich mit zugewanderten Sittichen und Gänsen ebenso wie mit verwilderten Haustauben arrangieren müssen. Denn die vermeintlichen Exoten sind schon lange nicht mehr allein.

An jenem Januarmorgen am Albert-Mangelsdorff-Weiher – benannt nach dem Jazzmusiker und -komponisten Albert Mangelsdorff, der an diesem kleinen Stadtparksee nicht nur seine Ruhe fand, sondern als begeisterter Hobbyornithologe auch Anschauungs- und Hörmaterial für seine Kompositionen – hatten dort auch ein paar Amselhähne mit ihren ersten Singübungen begonnen. Das klang zwar noch recht schräg und äußerst ungenau in den Tönen und Pausen zwischen den Strophen, war aber sehr schön anzusehen, wenn die krächzenden Sänger, vom eigenen schiefen Gesang erschrocken, aus den Ästen über den Schnee ins Gebüsch hüpften, um dort leiser weiterzuüben.

Amseln haben im Spiel zwischen dem Ausdrucksverhalten der Vögel und den Wahrnehmungen der Menschen eine doppelte Vorreiterrolle. Sie sind schon ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aus ihren ursprünglichen Biotopen in die Städte umgezogen. Und sie haben dabei auch ihre Gesänge den Hörgewohnheiten der Menschen angepasst. Ihre weitreichenden, harmonisch komponierten Strophen scheinen auch darauf zu schielen, ihre Duldung in der Menschenwelt zu erschleichen. Was ihnen gelungen ist, aber auch einen Trugschluss zur Folge haben kann. Denn die besonders in den Städten manifeste Nähe zwischen Vögeln und Menschen ist keine, die auf ein gegenseitiges Verständnis hindrängt. Es ist eher ein Nebeneinander von ähnlichen Ausdrucksvermögen, das die Unterscheidung von Natur und Kultur sinnlos werden lässt.

„Der Begriff eines Vogels liegt nicht in seiner Gattung oder seiner Art, sondern in der Zusammensetzung seiner Haltungen, seiner Farben und seines Gesangs“, schreiben die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Sie lesen das Ausdrucksverhalten der Vögel als ein „Opus mit eigener Ziffer“. Dichterinnen und Dichter wie Emily Dickinson und Wallace Stevens oder Komponisten wie Mangelsdorff und Olivier Messiaen hatten immer schon ein Gespür für den ganz eigenen Sinn der Vogelausdrücke und deren sich eben nicht im Funktionalen erschöpfenden Zweck. Die Biologie folgt ihnen da neuerdings. Der an der Duke University lehrende Biologe Stephen Nowicki, ein Meister in der Erforschung der Grundlagen und Mechanismen des Vogelgesangs, musste nach jahrelangen Freiland- wie Laborversuchen anerkennen, dass die Weibchen ihren Partner tatsächlich allein nach der Qualität des Gesangs wählen. Denn der gute Gesang verweist auf nichts anderes als auf die Virtuosität des Sängers. Rückschlüsse auf ein gutes Revier oder besondere Cleverness in anderen Bereichen lassen sich daraus nicht ableiten.

Sechs Millionen Kilometer fliegen

Was es heißt, im Element der Luft zu leben, entzieht sich bis heute der menschlichen Vorstellungskraft. Es ist aber auf See in den windreichsten Gegenden der Erde, um Kap Horn zum Beispiel, kaum jemandem entgangen, dass es da zumindest eine Tierform gibt, die haushoch brechende Wellen und heftigste Sturmböen nicht als feindlich empfindet, sondern als ihr Element.

Albatrosse verstehen es, selbst bei orkanartigen Windgeschwindigkeiten von über hundert Stundenkilometern im Flug so auszusehen, als ob sie den Sturm gar nicht bemerkten. Zu übersehen sind die Vögel bei ihren nur selten von einem Flügelschlag unterbrochenen Segelbewegungen dabei nicht. Mit den längsten Flügeln im Tierreich ausgestattet, erreichen die größten unter ihnen, die Wander- und Königsalbatrosse, eine Spannbreite von 3,30 Meter. Wer aber so gut und ohne jedes Gebrechen unter den windigsten Verhältnissen fliegen, segeln und gleiten kann, wird an anderer Stelle auch eine Schwäche haben. Und Albatrosse haben sie auf festem Boden, wenn sie zu landen versuchen.

Die Filmbilder sind wahrscheinlich nicht mehr zu zählen, die die Vögel zeigen, wie sie vor der Landung ihre Füße ausfahren, schon in der Luft zu strampeln beginnen, um dann aber registrieren zu müssen, dass ihre Fluggeschwindigkeit höher ist als ihr Laufvermögen. Das Ergebnis ist dann oft, dass die Vögel mit der Bodenberührung vornüberkippen und ein paar Meter die Landebahn entlangrutschen. In der Regel erholen sie sich von dem Schwindel der Landung aber relativ schnell und finden die Orientierung zurück.

Charles Baudelaire betrachtet in seinem Gedicht „Der Albatros“ das schändliche Treiben von Seeleuten gegenüber an Land unbeholfenen Albatrossen mit einer durchschlagenden Melancholie, die einem auch deshalb zeitgemäß erscheinen kann, weil es heute keiner unvermittelten Lust an der Schadenfreude mehr bedarf, um Albatrosse zu quälen. Nicht umsonst ist ein Foto von einem halbverwesten Albatroskadaver ikonisch für den Zustand der Meere geworden. Auf dem Bild ist zu ­sehen, wie dieVerwesung den Magen- und Darm­inhalt des Vogels aus Zivilisationsmüll freigelegt hat, mitsamt einem Plastikfeuerzeug, das den Verdauungstrakt des Vogels verstopfte und ihn verhungern ließ.

Es ist aber nicht nur der Plastikmüll in den Meeren, der den Vögeln zusetzt. Als Beifang in den riesigen Netzen der Fischfangflotten tauchen sie regelmäßig auf, und der Klimawandel lässt sie auch nach kilometerlangen Nahrungssuchflügen nicht mehr die Fische finden, mit denen sie ihren Nachwuchs fett füttern können. Berichten zufolge haben die Populationen von drei der zwölf Albatros­arten in den letzten vierzig Jahren Rückgänge um vierzig bis sechzig Prozent zu verzeichnen.

Wobei die Nachwuchsrate der Albatrosse ohnehin sehr gering ist. Albatrosse können zwar sehr alt werden – Wissenschaftler halten hundert Jahre für eine realistische Lebenserwartung –, sie pflanzen sich aber nur langsam fort. Wenn sich ein Paar gefunden hat, bleibt es am liebsten für immer zusammen; es zieht aber pro Brutzyklus nur ein Küken groß. Dieses Küken füttern die Elternvögel über ein Jahr lang, und das so gut, dass das Junge am Ende des Jahres drei Kilo schwerer ist als sie selbst. Danach machen sie erst mal eine Pause, sodass sie höchstens alle zwei Jahre ein Junges großziehen.

Wenn einer der Partner stirbt, lassen Albatrosse bis zu vier Brutperioden verstreichen, bis sie sich wieder verpaaren. In diesen Jahren setzen sie keinen Fuß auf festen Boden, sondern verbringen die Zeit auf und über dem Meer. Dabei segeln und jagen sie nicht nur im Flug, sie schlafen auch fliegend, und wenn ein Albatros 55 Jahre alt geworden ist, ist er mindestens sechs Millionen Kilometer um die südlichen Polarzonen geflogen.

Zaunkönig der Tiere

Präsentiert dem Weibchen bis zu zwölf Nester zur Auswahl: der Zaunkönig Foto: imago

Zaunkönige zählen zu jenen Arten kleiner Vögel, in deren Populationen in fast allen Gebieten Europas in extremen Kälteperioden viele Tiere zugrunde gehen. Als sogenannte Teilzieher spalten sie sich in solche Individuen auf, die im Winter in ihren Brutgebieten bleiben, und andere, die bis nach Ägypten fliegen. Wobei die allgemeine Klimaerwärmung immer mehr Vögel dazu verführt, gleich da zu bleiben, wo sie aufgewachsen sind. In kalten Wintern kann ihnen das zum Verhängnis werden. Da nützt es auch wenig, dass sich Zaunkönige in der Kälte, im Gegensatz zu ihren sonstigen Gewohnheiten, in Baum- oder Steinhöhlen zu Schlafgemeinschaften von bis zu zwanzig Tieren zusammenfinden. Um allein der andauernden Kälte zu trotzen, sind sie einfach zu klein.

Zaunkönige gehören zu den kleinsten und kürzesten Vögeln hierzulande, wobei die kugelige Gestalt mit dem sehr kurzen, sehr oft aufrecht getragenen Schwanz zum unverwechselbaren Habitus geworden ist. Und der kurze Schwanz hat es in sich, ist er doch ein unübersehbarer Anzeiger der Erregungszustände der Vögel. Ein zittrig wippender Zaunkönigschwanz kann von Erstaunen über Furcht bis zu übermütiger Angriffslust so ziemlich alles ausdrücken und ist richtig nur im Kontext etwa einer anrückenden Katze zu lesen.

Ihre Größe hindert Zaunkönige aber nicht daran, ihre Gesänge zu den lautesten unter denen der europäischen Vögel hochzupeitschen. Wie Zaunkönige dies schaffen, weiß man nicht. Man weiß aber, dass sie generell eher zur Geschäftigkeit neigen. So sind ihre Lieder tatsächlich fast das ganze Jahr über zu hören. Ihre höchste Intensität und Heftigkeit erreichen sie allerdings von März bis Juni. Nach der Theorie besetzen die Männchen in dieser Zeit ihre Territorien. Es wird aber auch diskutiert, dass der Wintergesang die Funktion haben könnte, ein gutes Territorium das ganze Jahr als besetzt anzuzeigen, um Übernahmen von umherziehenden anderen Zaunkönigen zu verhindern.

Im Frühjahr beginnen männliche Zaunkönige neben dem Gesang damit, aus Halmen und Blättern kunstvolle Nester zu flechten. In manchen Fällen bis zu zwölf Stück in verschiedensten Fertigkeitsgraden, vom Rohbau bis zur rundum verschlossenen Kugel mit einem Seiteneingang. Der weitreichende Gesang der Männchen ist nur die Ouvertüre zum eigentlichen Werberitual. Der Gesang zeigt dem Weibchen an, wo ein Männchen sitzt. Fliegt es darauf in sein Gebiet, wird das Männchen zuerst einmal leiser. Dann stellt es sich vor sein Nest und lädt das Weibchen nachdrücklich zur Besichtigung ein. Dabei lässt der kleine Mann seine Flügel schlaff hängen, und sein Lied schmilzt auf einen monotonen, langgezogenen Triller zusammen.

Ob es zur Paarung kommt, hängt einzig davon ab, ob dem Weibchen das Nest gefällt. Da kann es natürlich nützlich sein, wenn der Werbende mehrere anbieten kann. Den Innenausbau des Nestes sowie die Brut und die Aufzucht der Jungen wird er dafür meistens ihr allein überlassen. Weil die Weibchen weder partner- noch reviertreu sind, wird er auch nach der ersten Paarung weiterhin jedes vorbeikommende Weibchen anbalzen und zur Brut locken wollen. Zu mehreren Partnerinnen in einer Saison bringt er es aber nur dann, wenn sein Revier ausreichend Nahrung für die Aufzucht nicht nur einer, sondern mehrerer Bruten liefern kann.

Laut einer Fabel von Äsop kam der Zaunkönig zu seinem Namen, weil die Vögel beschlossen hatten, denjenigen zum König zu machen, der am höchsten fliegen könne. Und wie in solchen Geschichten nichts anders zu erwarten, gewann den Wettbewerb ein Adler. Es war nur so, dass sich im Gefieder des Adlers ein Zaunkönig versteckt hatte, der, als der Adler wieder absinken musste, sich aus dem Gefieder erhob und verkündete, dass er nun der König sei. Die Wahl wurde daraufhin für ungültig erklärt und der Zaunkönig in ein Mauseloch gesperrt.

Eine gar nicht mal so abwegige Strafe, da es tatsächlich Zaunkönigsformen gibt, die in von anderen gegrabenen Erdlöchern ihre Nester suchen.

Füttern gegen Darwin

Ist auf das ganzjährige Füttern angewiesen: der Spatz Foto: imago

Als der Ornithologe und Vogelzugforscher Peter Berthold 2006 in seinem Buch „Vögel füttern – aber richtig“ dafür plädierte, Vögel in Garten und Stadt das ganze Jahr über zu füttern, wurde das von manchen Vogelfreunden hierzulande als eine Revolution empfunden. Das war sicher übertrieben, zeigt aber, mit welcher Vehemenz in Deutschland um die Frage, ob man Vögel überhaupt füttern soll, und wenn ja, ob nur im Winter oder über das ganze Jahr, gerungen wurde und wird.

Wer mit Ornithologen in den USA zu tun hat, kann den Konflikt kaum noch nachvollziehen. In Nordamerika ist es von Maine über New York bis Texas völlig normal, Vögel das ganze Jahr über zu füttern. Es gibt dort spezielle Futtermischungen für alle Jahreszeiten, in manchen Fällen auch für bestimmte Arten. In einem Land, in dem jeder fünfte Einwohner ein Birder, also ein Hobbyornithologe ist, gibt es allerdings für die Futtermischungen auch einen unvergleichlich großen Markt, gemessen zu hiesigen Verhältnissen. Wie man aber Bertholds Buch entnehmen konnte, werden auch in Großbritannien seit über dreißig Jahren Vögel ganzjährig gefüttert, ohne dass man das Füttern infrage gestellt hätte. Dementsprechend bezieht sich Berthold in seiner Argumentation für das Füttern übers Jahr vor allem auf Erfahrungen von dort, wo die Praxis immer auch wissenschaftlich begleitet worden ist.

Eines der am heftigsten vorgebrachten Argumente gegen das Auslegen von Vogelfutter bezieht sich auf einen spezifischen Wechsel in der Nahrung der Singvögel. Fast alle Singvögel müssen ihre Jungen nach dem Schlüpfen aus dem Ei in den ersten Wochen mit Insekten ernähren, während die erwachsenen Vögel alles Mögliche zu sich nehmen können: Sämereien, Früchte, Gräser und auch tierische Fette.

Weil aber, so lautete das Argument, die für die Winterfütterung typischen Meisenknödel nur Fette und Samen enthalten, würden sie, über das Frühjahr ausgelegt, die Elternvögel dazu verführen, die Insektenjagd einzustellen und ihre Jungen mit Samen falsch zu ernähren. Wer einmal Krähen, die zu den Singvögeln zählen, dabei beobachtet hat, wie sie im Frühjahr während der Jungenaufzucht in einem Stadtpark im Gras der für sie mühseligen Insektenjagd nachgehen, kann diesem Argument nicht mehr folgen. Das Futter, von dem sich die Altkrähen ernähren, menschliche Abfälle zum Beispiel, nimmt im Frühjahr im Stadtpark eher zu als ab, und trotzdem suchen die Alten für die Jungen nicht Pommes, sondern Insekten. Darüber hinaus ist es ziemlich anmaßend, davon auszugehen, dass Vögel so blöd sind, dass sie nicht zwischen Nahrung für sich und Nahrung für ihre Jungen unterscheiden können.

Mittlerweile ist der Fall auch wissenschaftlich einwandfrei geklärt. Meisen zum Beispiel ernährten in England während der Jungenaufzucht die Kleinen mit Insekten und stärkten nur sich selbst an den verfügbaren Fett-Samen-Mischungen der Knödel. Dramatisch wurde es nur, wenn die allgemeine Ernährungslage so schlecht war, dass außer den Knödeln kein anderes Futter zur Verfügung stand. Dann ernährten die Meisen ihre Jungen tatsächlich falsch oder ließen sie im Extremfall auch verhungern. Das ist ein Phänomen, das man auch von Seevögeln wie Trottellummen von den nordschottischen Inseln kennt: Wenn sie nicht mehr genug junge Fische im Meer finden, um ihre Brut zu ernähren, ernähren sie nur noch sich selbst.

Aus dieser Tatsache folgt dann auch Bertholds allgemeines Argument für das Füttern von Vögeln: Insekten haben in den letzten Jahrzehnten derart an Zahl abgenommen, dass es in seinen Augen zur Menschenpflicht wird, Vögeln durch Zufütterung über die anstrengende Jungenaufzucht zu helfen. Wie extrem der Rückgang der Insektenpopulationen ist, das erläutert Berthold mit einem plastischen Beispiel. Wer sich noch daran erinnert, wie er oder sie in den Sechziger- oder Siebzigerjahren nach längeren Autofahrten die Windschutzscheibe oder das Glas der Vorderlampen von darauf im Fahrtwind zerquetschten Insekten freikratzen musste, kann feststellen, dass das heute praktisch nicht mehr vorkommt.

Das Buch: „Vögel – Vom Singen, Balzen und Fliegen“, Cord Riechelmann, Duden­verlag Berlin, 2021

Zufüttern, selbst mit Meisenknödeln, kann die Elternvögel also entlasten. Und wer es ganz richtig machen will, kann mittlerweile auch mit Insekten angereichertes Vogelfutter auslegen. Man tut damit nichts Schlechtes, aber man greift selbstverständlich in die Natur ein. Womit man sich den Ärger von Hardcore-Darwinisten unter den Naturschützern zuziehen kann, die immer noch glauben, es gebe so etwas wie Naturgesetze, die unabhängig vom Menschen ihre Kraft entfalten und für die Auswahl der Besten unter den Lebenden sorgen. Darauf kann man in einer Reihe, die vom großen Allgemeinen zum kleinen Konkreten führt, antworten: Zum einen gibt es, seit es Menschen gibt, dort wo es Menschen gibt, keine Natur mehr, die nicht von menschlichen Eingriffen, betroffen ist. Die Intensivierung der Landwirtschaft stellt genauso einen menschlichen Eingriff in die Natur dar wie die Versiegelung von Grundflächen in Siedlungsgebieten oder auch gebaute und nicht benutzte Flughäfen auf vorher freien Grünflächen. Das Füttern von Vögeln ist dann nur ein Eingriff von der anderen Seite, von der Seite derer, die lieber mit Vögeln leben als ohne.

Mit den Spatzen gibt es mittlerweile auch eine Art, die grundsätzlich auf das Füttern angewiesen ist. Ihre Zahl nimmt im Unterschied zu der von Meisen oder Grünfinken in Städten stetig ab, und das hängt unter anderem mit der aktuellen Architektur zusammen, die ihnen Nistmöglichkeiten raubt. Wer das Leben in Städten aber mit Spatzen als lebenswerter empfindet als ohne, wird nicht darum herumkommen, sie zu füttern, und das ohne Pause übers ganze Jahr.

„Wenn ich ‚didü‘ poste, wissen meine Freunde, dass es mir gut geht“

Günter Hack twittert über seine Balkonvögel. Warum macht er das?

Günter Hack

ist Journalist und Autor. Bevor er Kommunika­tionswissenschaft studierte, ließ er sich zum Schriftsetzer ausbilden. Er veröffentlichte unter anderem die Romane „ZRH“ (FVA) und „Quiz“ (Frohmann) und twittert unter @guenterhack

taz am wochenende: Herr Hack, Sie sind Journalist, Schriftsteller, waren mal Blogger und informieren Ihre Twitter-Follower seit Jahren über die Machenschaften, Essgewohnheiten und Lautmalereien Ihres „Hausamslerich“, der „Madame Amsel“, vom „Blaumeisli“, dem „Psychospatz“ und manchmal auch von Überraschungsgästen wie der „Wacholderdrossel“ vor Ihrem Fenster. Ziemlich oft, manchmal mehrmals am Tag, twittern Sie „didü“. Was wollen Sie damit sagen?

Günter Hack: Das ist ein Stimmfühlungslaut. Die meisten Vögel können körperliche Nähe nicht so ab. Intimität und Nähe stellen die akustisch her. Wenn ich „didü“ poste, wissen meine Freunde, dass es mir gut geht. So wie wenn der Vater vorm Fernseher sitzt und vor sich hinbrummt. Das Aktualisieren der Kommunikationswege, ohne dass es explizit werden muss, das macht ja Intimität aus.

Warum füttern Sie die Vögel auf Ihrem Balkon?

Wenn ich dem Vogel was zu fressen geben kann, weiß ich, dass ich selbst so viel habe, dass ich was abgeben kann. Das beruhigt. Das ist so ein Bauernding: Man ist zufrieden, wenn das Federvieh happy ist.

Einsamkeit ist ein Zustand ohne Meise“ lautete der Titel einer Kolumne, die Sie mal in einer Vögel-Reihe für die Zeitschrift Merkur verfasst haben. Warum haben Sie Meisen?

Ich halte mir ja keine. Das sind einfach meine Nachbarn. Wenn man denen eine angenehme Umgebung schafft, Rosinen und Körner hinlegt und frisches Wasser zum Baden, kommen sie immer wieder. Außerdem braucht man kein Net­flix, wenn man Birdflix hat. Es ist immer was los.

Woran erkennen Sie, dass da immer wieder dieselben Vögel zu Ihnen fliegen?

Speziell in der Stadt gibt es nicht so viele Vögel. Man kennt sich nach einer Weile. Und die Amseln siedeln auch meistens da, wo man selbst ist. Mit denen kann man sich besonders gut anfreunden. Die sind sehr neugierig und lassen einen beobachten, wie sie ihre Jungen großziehen, wie sie sich streiten. An denen kann man ein bisschen sehen, wie man als Mensch funktioniert.

Würden Sie auch zu dem Menschen zurückkehren, der Ihnen Rosinen hinlegt?

So funktioniert Kapitalismus: Man muss jeden Tag zur Arbeit gehen. Ich denke aber, dass der Hausamslerich kein größeres Entfremdungsproblem hat, wenn er meine Rosine nimmt. Er mag ja lieber Würmer und nimmt die Rosine nur, wenn er grad nichts anderes findet.

Und warum kriegt er von Ihnen keine Würmer?

Weil er die selber findet.

Warum überhaupt Rosinen?

Weil Amseln Wein mögen.

Warum füttern Sie Vögel?

Es ist Anthropomorphismus, zu glauben, man darf die Vögel nicht füttern, weil die sonst verlernen zu jagen. Das sind wilde Tiere, speziell für die Blaumeise ist es eine richtige Überwindung, auf den Balkon zu kommen. Aber sie macht es, wenn sie wegen ihrer Kinder arg im Stress ist. Dann nimmt sie die Körner und das Vollbad dankbar an. Und man kann den Kollegen doch mit ein paar Körnern ein bisschen unter die Arme greifen, wenn wir denen schon die Umwelt versauen.

Merken die Amseln das?

Vögel sind eine Indikatorspezies. Bienenfresser beispielsweise waren hierzulande eigentlich ausgestorben und erobern sich aber gerade aufgrund der Klimaerhitzung den Norden zurück. Man kann an den Verhaltensmustern von Vögeln definitiv Umweltveränderungen ablesen. Denken Sie nur an den berühmte Kanarienvogel in den Kohleminen, den die Bergleute dabei hatten. Wenn Grubengas austrat, fiel der Vogel um und die Arbeiter wussten, sie müssen schnell raus. Vögel zu beobachten, sensibilisiert für die Umwelt, ohne dass man zum Birder werden muss.

Sind Sie ein Birder?

Um Himmels willen, nein und auch kein Twitcher. Ich beobachte ja nur ganz normale Vögel, die an meiner Wohnung vorbeifliegen oder sich in der Stadt aufhalten, in der ich sowieso grade bin. Diese Leute, die alle ins Auto springen, wenn irgendwo jemand einen seltenen Vogel gesehen und auf Facebook gemeldet hat und plötzlich stehen da 150 Typen irgendwo in der Landschaft mit Fernglas – mit denen hab ich nichts zu tun.

Interview: Doris Akrap