Maschinen bilden Maschinen ab

Die posthume Fotopublikation „Art Isn’t Fair“ von Allan Sekula ist ein Liebesdienst für den Verstorbenen und darum auch ein wunderbar unbändiges Buch

Allan Sekula, A Short Autobiography, 1971 Foto: aus dem besprochenen Band

Von Jochen Becker

Auf den ersten 100 von knapp 350 Seiten des Sammelbands „Art Isn’t Fair“ werden schon mal zwei vergriffene Bücher von Allan Sekula wieder zugänglich gemacht. Der von der Kunsthistorikerin Sally Stein und der Studioverwalterin Ina Steiner 2020 herausgegebene, aber erst im Frühjahr 2021 in den Vertrieb gekommenen Sammelband quillt geradezu mit Texten und Bildern über. Die Publikation zeigt die ganze Spannbreite seiner Arbeit als Kritiker und Archivar, Autor oder Monteur zwischen Fotografie, Film, Fotogeschichte und Gesellschaftspolitik von 1971 bis 2012. Eine Vorarbeit zur herausragenden autobiografischen Familienanalyse „Aerospace Folktales“ (1973) ist ebenso enthalten wie Filmtranskripte, zentrale Archiv­theo­rien oder verstreute Texte für befreundete Künstler*innen.

Das „Arbeitsbuch“, so seine Witwe Sally Stein, ist ein Liebesdienst für den Verstorbenen und darum auch ein wunderbar unbändiges Buch geworden. Auf trauerschwarzem Umschlag steht ein kleiner Ausschnitt der Daguerreotypie Boulevard du Temple, im Frühjahr 1838 festgehalten vom Fotopionier Louise-Jacques-Mandé Daguerre. Berühmt geworden ist das Bild, weil trotz ewiger Belichtungszeit zwei Personen fotografisch festgehalten werden konnten: Ein Herr, der sich von einer durch die Bewegung seiner Arbeit verwischten Person die Schuhe putzen lässt, macht die Klassenverhältnisse zwischen Auftraggeber und der für ihn arbeitenden Person sichtbar.

„Die Kunst der Fotografie wurde immer wieder vom Bild der menschlichen Arbeit heimgesucht.“ Als der Fotograf Nadar neben den quer durch Paris geschlagenen Boulevards aus dem Ballon auch die Abwässer ganz unten fotografierte, ersetzte man die Kanalarbeiter bezeichnenderweise durch Puppen, da im Dunkel der Schächte die Belichtungszeit zu lange dauerte. Sekula erkennt in diesem Untergrund der Fotografie bereits die Zombies der Automatisierung.

Wie also bildet Fotografie jene „imaginäre Ökonomie“ heraus, von der Sekula spricht? Der Text „Photography between Labour and Capital“ begleitete eine Ausstellung über die Extrak­tions­industrie im ostkanadischen Cape Breton und erschien erstmals 1983 in einer von Benjamin Buchloh und Kaspar König initiierten Buchserie. Auf nun knapp 70 Druckseiten spürt Sekula mit archivarischer Sachkenntnis der Verbindung von Wissen und Macht sowie dem Verhältnis von Lagerstätte und Bürokratie nach. „Warum gibt es so viele Fotos von Maschinen, aber so wenige von Bergleuten?“, fragt er zu Recht, denn gerade die Extraktionsindustrie konnte lange Zeit nicht vollständig automatisiert werden. Und so werden die Ruhr-Kumpels in den 1980er Jahren auch nicht etwa von Maschinen ersetzt, wie etwa in der robotisierten Autoindustrie; vielmehr wanderte die arbeitsintensive Industrie nach China und Osteuropa ab.

„Die industrielle Dokumentation ist im Wesentlichen ein Ergebnis der zweiten industriellen Revolution, d. h. der Entstehung und des Sieges der monopolistischen Form des Kapitalismus in den Jahren zwischen 1880 und 1920“, schreibt Sekula. Im Sammelband lässt sich noch einmal seine akribische Grundlagenforschung nachvollziehen, wie etwa die Fotografie integraler Teil der Umwälzung war, denn Maschinen bilden Maschinen ab, zitiert Sekula den Fotografen Stieglitz. Die Fotografie konnte die zweite industrielle Revolution maschinell, ideologisch und wissenschaftlich zerlegen. Sekula nannte seine eigene Montage von Texten und Bildern „demontierte Filme“.

Der Taylorismus als Pionierwissenschaft der Rationalisierung bedeutet Fragmentierung der Arbeitsprozesse, sodass immer weitere Teile von Maschinen und zunehmend auch Automaten übernommen werden konnten. Das „operative Dokument“ soll helfen, Fertigungsprozesse zu optimieren – die Fotografie bildet also nicht ab, sondern wirkt instrumentell und wird angewandt. Im Zuge solch operativer Bilder entwickelte das Ehepaar Gilbert Bewegungsmuster von In­dus­trie­ar­bei­te­r*in­nen, denen an ihre Hände Leuchtkörper geschnallt wurden, und modellierten die auf Fotopapier fixierten Leuchtspuren als bizarre Drahtmodelle nach. Das „wissenschaftliche Management“ eines Frederick Winslow Taylor nutzte in seiner Abhandlung „On the Art of Cutting Metal“ (1906) Fotografien und Arbeitsdiagramme als instruktives Demonstrationsmaterial. Er war dabei kein Grundlagen-Wissenschaftler, sondern diente dem unternehmerischen Imperativ.

Sekula stellt den operativen Bildern der Ma­na­ger­forscher*innen die Aufklärungsfotografien der So­zi­al­re­for­me­r*in­nen gegenüber. „Wenn die charakteristischen Bilder des Ingenieurs Diagramme, Detail­auf­nah­men und ausgeschnittene Fragmente von Körpern und Maschinen waren, waren die charakteristischen Bilder des Sozialreformers die Umweltstudie“ und das Porträt „als einer soziologisierten Version der Familienfotografie“. Philanthro­pi­sche Untersuchungen wie „The Pittsburg Survey“ (1907–1908) sollten Familienleben, Wohnungssituation, Unfallopfer sowie die Konditionen an den Arbeitsplätzen festhalten. Als Bildautor wird einzig der schon damals renommierte Sozialfotograf Lewis Hine genannt. Jener glaubte an die Evidenz- und Abschreckungskraft seiner Aufnahmen, aber auch an die Rückeroberung von Würde der Porträtierten. Im Druck wurden seine Kohle-Kumpels jedoch mittels Retusche „gebadet“ und von ethnischen Markierungen befreit.

Für Sekula gibt es kein Entrinnen aus der kapitalistischen Logik: „Ja, ich weiß, es gibt einen utopischen Aspekt in Saturday Night Fever“, lautet seine bittere Ironie. Er erinnert an Emma Goldmans Diktum, dass diese bei keiner Revolution ohne Tanz mitmachen wolle. Allerdings, so Sekula, ersetze der Tanz nicht die Revolution. Dass Fotografien lügen, sei selbst ein Mythos, schreibt ­Sekula. Und navigiert voller klug artikulierter Skrupel in seiner eigenen fotografischen Arbeit zwischen Sozialfotografie und Postmoderne, zwischen indexikalischem Glauben an das Dokument und der medienreflexiven Strenge von Text-Bild-Serien. Schon die erste im Band abgedruckte Arbeit „A Short Autobiography“ (1971) zeigt Allan Sekula im produktiven Widerspruch zwischen Art World und der Dritten Welt, zwischen Godard, Benjamin und Mao, zwischen Familie und Rebellion.

Allan Sekula: Art Isn’t Fair – Further Essays on the Traffic in Photographs and Related Media“. Edited by Sally Stein and Ina Steiner, Mack, London 2020, 340 Seiten, 45 Euro