Talibanherrschaft in Afghanistan: Ungeklärte Zustände

Die Taliban kontrollieren Afghanistan. Regional werden Berufsverbote für Frauen ausgesprochen. Von einer Regierung kann noch keine Rede sein.

Zwei komplett verschleierte Frauen und ein unverschleiertes Mädchen mit einem Baby auf dem Arm laufen die Straße herunter, im Hintergrund eine Ruine

Frauen haben von der Talibanherrschaft am meisten zu befürchten. Kabul am 22. August 2021 Foto: Rahmat Gul/ap

BERLIN dpa/rtr/taz | Die Taliban haben keine Eile, eine neue Regierung für Afghanistan zu bilden. Bislang haben sie erst zwei provisorische Minister ernannt. Ihr bisheriger Sprecher Sabihullah Mudschahed ist nun für Information und Kultur und damit auch für die Medien verantwortlich. Offenbar versuchen die Taliban, ihre Außenkommunikation in den Griff zu bekommen. In den vergangenen Tagen waren angeblich hochrangige „Vertreter“ aufgetaucht, von denen unklar ist, ob sie wirklich für die Taliban-Führung sprechen.

Zudem ernannten die Taliban den Geistlichen Mullah Bacht-ur-Rahman Scharafat zum Minister für öffentliche Arbeiten. Er soll nach Angaben einer afghanischen Nachrichtenagentur, die weiterhin online aktiv ist, bereits am Samstag mit den Abteilungsleitern des Ministeriums zusammengetroffen sein, um deren Weiterarbeit zu organisieren. Zuvor hatten sich die Taliban auch an den Gesundheitsminister der vorherigen Regierung gewandt, um die Weiterarbeit mit dessen Ministerium in dem coronageplagten Land sicherzustellen.

Die Taliban verfügen mit der „Rahbari Schura“, ihrem Führungsrat, durchaus über eine Entscheidungsstruktur. Dem Rat unterstehen mehrere Ressortkommissionen, von Politik und Finanzen bis zur Zusammenarbeit mit NGOs, auch auf Provinz- und Distriktebene. Mullah Abdul Ghani, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Mullah Baradar, führte als Vorgesetzter der Politischen Kommission der Taliban in Kabul weitere Gespräche mit führenden Politikern des alten Systems über deren etwaige Einbeziehung in eine künftige „inklusive islamische Regierung“, darunter mit Ex-Präsident Hamed Karsai und dem Chef des Nationalen Versöhnungsrats, Abdullah Abdullah.

Zudem setzten die Taliban eine Kommission ein, die das Bankwesen wieder in Gang bringen soll. Die Banken sind geschlossen, denn die Nationalbank hat kaum noch Bar­geld­reser­ven. Die US-Regierung fror afghanische Guthaben ein. Amir Khan Mutaki, Mitglied des Taliban-Führungsrats, bezeichnete dies als „moralisches Verbrechen und unfair“. Da die Geberländer die afghanische Regierung sowie Hilfsorganisationen gezwungen hatten, ihre Mit­ar­bei­te­r:in­nen nur noch über Bankkonten zu bezahlen, um Korruption zu bekämpfen, haben viele keinen Zugang mehr zu ihren Rücklagen. Auch Überweisungen von Verwandten sind derzeit nicht möglich, denn Geldüberweisungsdienste wie Western Union haben ihre Tätigkeit unterbrochen. Gleichzeitig steigen bereits die Preise für Waren des täglichen Bedarfs.

Zu Tode getrampelte Menschen

Unterdessen schaffen re­gio­nale Taliban-Vertreter offenbar Tatsachen, ohne dass klar ist, ob in Eigeninitiative oder in Abstimmung mit der zentralen Führung. In der Westprovinz Herat „beschlossen“ örtliche Taliban und Leiter staatlicher und privater Universitäten, dass Studentinnen und Studenten künftig nicht mehr gemeinsam studieren dürfen. Dozentinnen dürften nur noch Frauen unterrichten. Der Taliban-Provinzchef für das Hochschulwesen, Mullah Farid, führte als Begründung an, Koedukation sei „die Wurzel allen Übels in der Gesellschaft“. In der Provinz Ghasni untersagte der Chef der örtlichen Informations- und Kulturkommission Frauen, weiter bei lokalen Radiosendern zu arbeiten sowie die Ausstrahlung von Musikprogrammen.

Berichte, dass die Taliban die Verantwortung für die Sicherheit am Flughafen Kabul, übernommen haben, sind bisher nicht bestätigt. Es hieß, die Sondereinheit der Taliban-Polizei Badri 313 habe die Menschen dort „in ordentliche Warteschlangen“ eingereiht. Die Tore zum Flughafen waren in den vergangenen Tagen von Ausreisewilligen belagert worden. Bei Tumulten kamen nach Nato-Angaben 20 Menschen ums Leben; viele wurden zu Tode getrampelt. Vom Flughafengelände wurde auf Menschen geschossen, die die Umfassungsmauer überklettern wollten. Nach wie vor kontrolliert US-Militär den Flughafen zusammen mit Angehörigen der bewaffneten Einheit 01 des bisherigen afghanischen Geheimdienstes NDS. Für zusätzliche Angst sorgen Gerüchte über einen geplanten Selbstmordanschlag durch den afghanischen Ableger des Islamischen Staats, der mit den Taliban verfeindet ist.

Die Wiederherstellung eines geordneten Zutritts zum Flughafen wäre die Voraussetzung für eine Wiederaufnahme der internationalen Evakuierungsflüge. Es ist aber nicht klar, ob die Taliban und das ausländische Militär in Kabul in dieser Angelegenheit miteinander kommunizieren.

Großbritannien teilte jedoch am Sonntag mit, dass der britische Evakuierungseinsatz in Kabul an Fahrt aufgenommen habe. Innerhalb von 24 Stunden seien 1.721 Menschen in acht Maschinen der Royal Air Force ausgeflogen worden. Anders als am Vortag gelinge es nun besser, geordnete Schlangen zu bilden und die Wartenden auf den Flughafen zu bringen. Das liege auch daran, dass die Taliban dies nicht blockierten.

G7 berät über Afghanistan

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schloss derweil eine Anerkennung der Taliban als Regierung sowie „politische“ Gespräche mit ihnen aus, nicht aber humanitäre oder technische.

Die Bundeswehr hat am Sonntag weitere 196 Menschen ausgeflogen, am Sonntag verließ eine Maschine Kabul in Richtung Usbekistan. Insgesamt hat die Bundeswehr wohl mehr als 2.300 Menschen evakuiert. Seit Samstag verfügt sie zudem über zwei Hubschrauber, die für Evakuierungen in Kabul genutzt werden können.

Am Dienstag wollen die Staats- und Regierungschefs der G7 über Afghanistan beraten. Dies teilte der britische Premierminister Boris Johnson mit. Es sei von „entscheidender Bedeutung, dass die internationale Gemeinschaft zusammenarbeitet, um sichere Evakuierungen zu gewährleisten, eine humanitäre Krise zu verhindern und dem afghanischen Volk zu helfen, die Fortschritte der letzten 20 Jahre zu schützen“.

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