Überraschung bei der Spanienrundfahrt: Mentales Kraftwunder

Nur ein Jahr nach seinem fürchterlichen Sturz ist der niederländische Radprofi Fabio Jakobsen bei der Spanienrundfahrt der beste Sprinter.

Fabio Jakobsen breitet die Arme zum Jubel bei der Fahrt über die Ziellinie aus

Voller Selbstbewusstsein: Fabio Jakobsen scheut keine Massensprints mehr Foto: Alvaro Barrientos/ap

Die Narben sind noch im Gesicht zu sehen, die Zahnimplantate immerhin sitzen fest. Wenn Fabio Jakobsen lacht, sind sie zu erkennen. Zum Lachen hat der niederländische Radprofi derzeit viel Gelegenheit. Denn die Kraft ist in seine Beine und die Unbekümmertheit in sein Gemüt zurückgekehrt. Das führte zu bisher zwei Etappensiegen bei der Spanienrundfahrt und dem ersten Platz in der Punktwertung. Vor allem aber verzaubert Jakobsen die Welt des Radsports. Denn vor einem Jahr kämpfte er nach einem schweren Sturz bei der Polenrundfahrt noch mit dem Tod.

„Vor einem Jahr lag ich noch auf einer Trage im Flugzeug, das mich von Polen nach Hause brachte. Wer hätte damals daran geglaubt, dass ich ein Jahr später die Vuelta fahre?“, staunte er selbst noch zu Beginn der Rundfahrt. Sein Staunen wurde in Spanien sogar noch größer. Er gewann die 4. Etappe im Massensprint und ließ auch auf der 8. Etappe einen weiteren Sieg folgen. An zwei weiteren Tagen wurde er Zweiter. Er ist damit ganz sicher der schnellste Mann im Vuelta-Peloton.

Fabio Jakobsen

„Ich muss Vertrauen in meine Rivalen zurückgewinnen“

„Ich bin überglücklich, hier gewonnen zu haben“, sagte er nach seinem Tageserfolg am Samstag. „Ich war heute der Schnellste, und ich habe meinen Sprint auch pünktlich gestartet“, bilanzierte er. Ehrgeizig wie er ist, übte er sich sogar in Selbstkritik. „Zweimal bei dieser Vuelta habe ich zu spät begonnen und wurde jeweils Zweiter. Dieses Mal habe ich den richtigen Zeitpunkt erwischt und konnte voll durchziehen. Beim Sprinten geht es um Kraft, Geschwindigkeit und Timing“, erklärte er.

Die Art und Weise seines Sieges war bemerkenswert. Denn der 24-Jährige musste zuvor einige bange Momente überstehen. Im Finale verlor er das Hinterrad seiner Anfahrer. Der starke Gegenwind hatte seine Helferschar ohnehin reduziert. Viele Sprintzüge anderer Teams schossen immer wieder an die Spitze und sorgten für großes Durcheinander. Jakobsen aber behielt die Nerven. Er eröffnete als Erster seinen Sprint, schoss durch eine Gruppe von Fahrern, die sich vor ihm aufhielten, und behauptete sich im Finish auch gegen seinen stark aufkommenden Hauptrivalen bei dieser Vuelta, den ebenfalls zweimaligen Etappensieger Jasper Philipsen.

Überwindung der Angst

Jakobsen war nicht nur schnell. Er hielt den lang gezogenen Sprint im Gegenwind auch durch. Vor allem aber blieb er im Getümmel cool. Das lässt den Schluss zu, dass er mental den Horrorsturz so gut verarbeitet hat, dass zumindest von außen keine Angst, kein Zögern, keinerlei psychische Beeinträchtigung zu bemerken war.

Das war die größte Sorge noch bei seiner Rückkehr in den Rennbetrieb im April dieses Jahres. „Körperlich bin ich wiederhergestellt. Meine Ärzte, all die Chirurgen, haben exzellente Arbeit geleistet. Meine Werte im Training sind gut. Ich habe da auch keine Angst auf dem Rad. Ich weiß aber noch nicht, ob ich mich wirklich danach sehne, wieder in einem Massensprintfinale um den Sieg zu kämpfen. Ich muss auch wieder Vertrauen in meine Rivalen zurückgewinnen, dass sie fair fahren“, sagte er damals. Sein Sturz war durch einen Ellenbogencheck eines Kontrahenten verursacht worden.

Langsam tastete sich Jakobsen an die Wettkampfsituation heran. Bei der Türkeirundfahrt war er noch Helfer, konnte beobachten, wie sich Kollege Mark Canedish aus einem ähnlich tiefen Tal, das von Verletzungen und Depressionen geprägt war, mit gleich vier Siegen von allen Lasten befreite.

Dieses Erlebnis holte Jakobsen für sich im Juli nach. Bei der Tour de Wallonie konnte er gleich zwei Sprintsiege für sich und sein Team einfahren. Der Knoten war geplatzt. Er wusste, dass er wieder ganz vorne sein konnte. Es war ein kleineres Rennen, mit nicht ganz so starker Konkurrenz. Aber er gewann so auch ein Stück Gelassenheit.

Neben starken Beinen ist im Sprint das Selbstvertrauen unabkömmlich. „Ist das Selbstbewusstsein nicht mehr da, bist du auch nicht mehr da. Du gehst da auch als Mensch verloren“, erklärte Marcel Kittel, Deutschlands bester Sprinter des vergangenen Jahrzehnts, in einem aktuellen Interview mit dem Magazin Tour den delikaten Zusammenhang zwischen mentaler Kraft und Sprintsiegen.

Dank der Kombination von körperlicher und mentaler Genesung ist Jakobsen wieder dort, wo er vor zwei Jahren bereits war. Bei der Vuelta 2019 holte er ebenfalls zwei Etappensiege und klopfte damit bei der Weltelite an. Jetzt hofft er auf mehr. Seine Landsleute trauen ihm inzwischen sogar zu, die Weltmeisterschaft in Belgien Ende September zu gewinnen. Geschieht das, werden sich wohl Produzenten von Hollywood und Netflix um die Geschichte balgen.

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