Und es wurde Licht?

Der Erfolgsautor Tom Holland hat eine opulent erzählte Geschichte des Westens von Babylon bis #MeToo vorgelegt und überrascht voller Verve mit einem christogenen Universalismus

Ob Christen, Kommunis­tinnen oder Wokies – ohne das christliche Gleichheits­ideal geht bei ihnen angeblich gar nichts Foto: YAY/imago

Von Claus Leggewie

Zwei empirische Erhebungen trafen kürzlich zusammen. Eine belegte die massenhafte Kirchenflucht von Katholiken und Protestanten, aus Abscheu über vertuschte sexuelle Gewalttaten mancher Kleriker oder zur Vermeidung von Kirchensteuern. Die andere kam zum Ergebnis, dass die Majorität, auch Mitte der Gesellschaft genannt, Ideale der Gleichheit und Gerechtigkeit weiterhin unterstützt.

Der britische Autor Tom Holland sähe darin die Kontinuität und Konstanz christlichen Denkens und Fühlens, und es ist für ihn kein Widerspruch, wenn sich die Gotteshäuser leeren, die Kirchen keinen Nachwuchs mehr haben, auch in den USA die Zahl der Agnostiker und Atheisten wächst und im Westen das Gros der Menschen ohne religiöse Bindungen lebt und sich vom Christentum befremdet abwendet. Hollands Generalthese lautet, dass alle, jedenfalls im Westen, fest in einen christlichen Wertekosmos eingebunden bleiben, auch wenn sie ihre Leitlinien für durch und durch säkular halten.

Das Überdauern christlicher Wertorientierungen in entchris­tia­ni­sier­ten Gesellschaften konstatierten viele Philosophen, Historikerinnen und Intellektuelle vor dem britischen Erfolgsautor, der mit groß angelegten Bestsellern über den Untergang des Römischen Reichs, über die Entstehung des arabischen Weltreichs und den Einfluss des Islam und das Perserreich hervorgetreten ist. Nun also: „Dominion“.

Schon die Säkularisierung, die Trennung von Religion und Politik sei eine christliche Errungenschaft. Die Familienähnlichkeit marxistischer Fortschrittshoffnungen mit der christlichen Vorsehung ist oft betont worden, auch Carl Schmitt sah im säkularen Souveränitätsdenken eine politische Theologie am Werk, Larry Siedentop siedelt die Vorlagen liberaler Individualität, Gleichheit und Würde in der Theologie an, und das berühmte Diktum Wolfgang Böckenfördes, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, liegt ebenso auf dieser Linie.

Tom Holland hat diese Kon­ti­nui­täts­these nun „multidirektional“ radikalisiert: Wie ein Staubsauger habe das Christentum in den gar nicht so dunklen Jahrhunderten des Mittelalters antike Ideen aufgesaugt, und auch nach Renaissance und Revolution könne keine einzige moderne Idee, selbst wo sie im totalen Gegensatz propagiert wurde, ihre christlichen Wurzeln verleugnen. Darunter subsumiert er zwei berühmte Totengräber wie Charles Darwin und Karl Marx (an Sigmund Freuds Trieblehre hat er sich nicht herangetraut, wohl aber an Marquis de Sade).

Beim Lesen kam mir eine Szene bei den Castelgandolfo-Gesprächen 1996 in den Sinn, die unter dem Thema „Aufklärung heute“ die Dia­lek­tik des Enlightenment beleuchten sollten. Dem Streit der Anhänger des Wohlfahrtsstaats mit marktradikalen neoconservatives hörte der gesundheitlich angeschlagene Papst Johannes Paul II. schweigend zu, um im Schlusswort ganz unbeeindruckt von solch mundanen Petitessen die Bedeutung des Lichts im Christentum als Wegweiser jeder Aufklärung herauszustreichen.

Tom Holland: „Herrschaft. Die Entstehung des Westens“. Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021, 624 S., 28 Euro

Monokausale Hypothesen und Teleologien lassen sich bekanntlich selten durchhalten, und Spezialkennerinnen der Einzelabschnitte des über 600 Seiten ausgebreiteten Panoramas werden genug auszusetzen und richtigzustellen zu haben. Holland bietet allerdings eine verführerisch spannend erzählte Synthese aus anekdotischen Einzelbeispielen und den Diffusionsprozessen in den drei großen Etappen Antike (Athen – Jerusalem – Mission – Glaube-Nächstenliebe – Himmel – Exodus), Christentum (Bekehrung – Revolution – Verfolgung – Fleisch – Apokalypse – Reformation) und Modernitas (Geist – Aufklärung – Religion – Wissenschaft – Schatten – Liebe – Woke). Er verbleibt auch nicht im „christlich-abendländischen Kulturkreis“, dessen Voraussetzungen im Orient und dessen koloniale Expansionen auf der Hand liegen. Hier liegt die aktuelle Provokation seiner Generalthese.

Denn Hollands christogener Universalismus fällt weitgehend in eins mit der Entstehung des Westens, dessen Bedeutung und Hegemonie andere Global- und Universalhistoriker gerade mit Verve dekonstruieren. Denn das würde heißen, dass selbst ein nicht zuletzt von christlichen Missionsideen getriebener Kolonialismus nolens volens die unhintergehbare Grundlage weltgesellschaftlichen Denkens und Handelns bleibt. Dass sich chinesische Theoretiker dazu gerade eine sinozentrische Antithese entwickeln, würde im Westen wohl kaum auf Zustimmung stoßen.

Der postkoloniale Proteststurm blieb aus. Die Resonanz war nach dem Erscheinen des englischen Originals 2019 überwiegend positiv, von sich überführt fühlenden Atheisten bis zu gläubigen Christen, die unverhofft Zuspruch bekommen von einem Ungläubigen, als den sich Tom Holland durchaus zu erkennen gibt. Am meisten imponierte ihm die Kreuzigung Jesu Christi, die Urszene des Christentums. Der sich als Sohn Gottes der größtmöglichen Schande ausgesetzt hatte, brach mit allen Religionen vor ihm und setzte das Zeichen, „dass Gott näher bei den Schwachen war als bei den Mächtigen, näher bei den Armen als bei den Reichen. Jeder Bettler, jeder Verbrecher konnte Christus sein. ‚Die letzten werden die ersten sein, und die ersten werden die letzten sein.‘ “

Zu den Bezugnahmen auf die Kreuzigungsszene, die Holland als Ausdruck einer zeitlosen Barbarei bis hin zu den jüngsten Hinrichtungen des IS deklariert, fällt einem das Ringen eines gläubigen säkularen Muslims ein: Navid Kermani kommentierte in „Ungläubiges Staunen“ (2016) seine eindringlichen Bildbetrachtungen von Kreuzigungsszenen so: „Für mich … ist das Kreuz ein Symbol, das ich theologisch nicht akzeptieren kann, akzeptieren für mich, meine ich, für die Erziehung meiner Kinder. Andere mögen glauben, was immer sie wollen; ich weiß es ja nicht besser. Ich jedoch, wenn ich in der Kirche bete, was ich tue, gebe acht, niemals zum Kreuz zu beten. Und nun saß ich vor dem Altarbild Guido Renis in der Kirche San Lorenzo in Lucina und fand den Anblick so berückend, so voller Segen, dass ich am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man –, ich könnte an ein Kreuz glauben.“

Dass die Letzten die Ersten sein werden, ist die Quintessenz von „Herrschaft“ (im Original: „Dominion“). Dem radikalen Gleichheitsprinzip ist dabei eine mächtige Dia­lek­tik eigen: Auch wo sich Christen an abscheulichen Menschheitsverbrechen beteiligt haben (wie der Sklaverei) und auch wo radikale Nihilisten in ihrem Rassedünkel Millionen getötet haben (wie in der Schoah), waren es Holland zufolge stets christliche Grundsätze, die solche Verirrungen revidierten und heilten. Auch in der Gegenwart bleibt die Ambivalenz: ­#MeToo und LGBTQIA+- deutet Holland als konsequente Verwirklichung der Gleichheitsidee und Gottähnlichkeit der Menschen, aktuelle Woke-Rituale als Wiederkehr fundamentalistischer Sektierer.

Der Durchgang durch 2.000 Jahre christianisierte Zeit lässt einen ziemlich ratlos zurück: Wenn alles letztlich christlich sein soll und es kein Gegenteil mehr gibt – was ist es dann überhaupt noch? Die Frage geht an eine Christenheit, die zahlenmäßig unablässig wächst, deren Seelsorge jedoch an Prägekraft und Glaubwürdigkeit eingebüßt hat; Christen können ja nicht damit punkten, dass ihrem Kanon alle nacheifern, wenn sie selbst nicht mehr an sich glauben.

Der postkoloniale Proteststurm blieb aus. Die Resonanz war nach dem Erscheinen des Originals überwiegend positiv

Die Frage: was sonst? geht freilich auch an Anti-Christen, die es nicht bei Schimpftiraden auf unselige Kleriker belassen, sondern gründliche Religionskritik leisten wollen: Worauf sonst beruhen ihre, unsere normativen Fundamente?

Eine Bibelstelle hat Holland, dem es doch um Herrschaft geht, seltsamerweise ausgelassen: „Gott segnete sie (Mann und Frau) und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“ (Genesis 1,28).

War das ein Kommando Gottes zur Ausplünderung des Planeten, wie der Atheist und Ökologe Carl Amery meinte, oder doch wieder eine fromme Mahnung an die Menschheit, die Schöpfung zu bewahren?