die taz vor zehn jahren über einen sozialpolitischen amoklauf
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Computerfachmann? Seit vier Jahren aus der Branche raus? Ganz schlecht. Aktueller Wert auf dem Arbeitsmarkt: rapide sinkend. Sozialpädagogin? Zuletzt in der Jugendarbeit tätig? Gute Frau, so etwas können wir uns eh nicht mehr leisten. Marktwert zero. Da sind Sie mit zehn Prozent weniger Arbeitslosenhilfe noch gut bedient!

Was wie eine Parodie auf das Arbeitsamt von morgen klingt, wird derzeit im Bonner Arbeitsministerium zur Realität gedacht. Die Arbeitslosenhilfe soll künftig nicht mehr nach dem früheren Nettoeinkommen des Arbeitslosen bemessen sein, sondern nach seinem – geringer geschätzten – Marktwert. Eine abenteuerliche Konstruktion, die mehr mit einem orientalischen Basar gemein hat, als mit einem Rechtsanspruch.

Rechtlich sind die Blümschen Vorschläge eine Akrobatiknummer mit einprogammiertem Absturz. Praktisch wären sie der Einzug einkalkulierter Willkür ins Sozialsystem. Nur warum werden solche Vorschläge gemacht? Drei Deutungen liegen nahe, die einander nicht ausschließen: In Ermangelung von Geld und von Konzepten vollführt die Bonner Koalition derzeit einen sozialpolitischen Amoklauf. Außer dem Wahn, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger seien ein faules, betrügerisches Pack, steckt keine einzige Idee in all diesen Plänen. Doch der Amoklauf hat – Deutung zwei – auch System: Um zumindest einige Vorhaben durchzusetzen, werden die dicksten Brocken ins Wasser geschmissen.

Die dritte Deutung: In Bonn findet derzeit eine große Rochade zwischen den verschiedenen Sozialleistungsträgern statt. Der Bund will per Gesetz immer mehr Arbeitslose in die Sozialhilfe drängen, denn die müssen Länder und Gemeinden zahlen. Damit die Länder im Bundesrat das schlucken, muß man sie an anderer Stelle entlasten. Für die Betroffenen ist das die schlimmste Konstellationen, denn so läßt sich eine Schäbigkeit mit der anderen erkaufen.

Vera Gaserow, 11. 7. 1995