Coronalage in Deutschland: Keine Panik, trotzdem Vorsicht

Die Inzidenz steigt wieder rasant, die Zahl der Co­ro­na­pa­ti­en­t:in­nen in den Krankenhäusern etwas langsamer. Was das heißt und wo wir stehen.

Aufnahme aus dem Pergamonmuseum in Belrin vom Mai 2020, eine Mitarbeiterin mit Maske hinter eine Aufstellscheibe

Eine Mitarbeiterin desinfiziert Audioguides im Pergamon-Museum in Berlin Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Die Temperaturen gehen zurück, die Inzidenz steigt wieder. Allein am Donnerstag meldete das Robert-Koch-Institut binnen 24 Stunden 8.400 Corona­neuinfektionen. Der 7-Tage-Mittelwert liegt damit um 61 Prozent höher als noch vor einer Woche. Auch die Zahl der Co­ro­na­patient:innen in den Krankenhäusern nimmt wieder zu.

Zugleich wird eifrig gelockert. Restaurants, Kneipen und selbst Clubs öffnen ihre Innenräume. In Berlin sind Veranstaltungen mit bis zu 25.000 (!) Teil­neh­me­r:in­nen erlaubt. Wer nicht bereits genesen oder vollständig geimpft ist, muss offiziell zwar einen Test vorlegen. Doch vielerorts wird nicht einmal das geprüft – zudem schließen immer mehr Testzentren. Selbst so simple Maßnahmen wie Abstandhalten und Masketragen werden oft nicht mehr eingehalten.

Und die Politik? Abgesehen von Plädoyers, alle noch Ungeimpften mögen sich doch endlich die zwei Pikser geben lassen – dazu gibt es auch kostenlos eine Bratwurst –, scheint ihr Motto zu lauten: Bloß schnell Alltag einkehren lassen. Dem mag auch keiner widersprechen.

Denn nach nichts sehnt sich die Mehrheit mehr als nach dem Leben wie in Vor-­Corona-Zeiten. Und wer ist schon freiwillig der Spielverderber? Kanzlerkandidat Laschet, derzeit noch Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, erklärte bereits, Inzidenzwerte seien für ihn nicht mehr maßgeblich. Doch auch wer die Coronagefahr ernst nimmt, fragt sich: Wo stehen wir eigentlich? Wie verhalte ich mich angemessen? Was droht im Herbst?

Trügerische Hoffnung

Die gute Nachricht: Impfen wirkt. Trotz Meldungen über Impfdurchbrüche – also über doppelt Geimpfte, die sich dennoch anstecken und auch erkranken – ist die Wirksamkeit der hierzulande verwendeten Impfstoffe selbst bei der sehr viel ansteckenderen Deltavariante hoch. Krankenhauseinweisungen von Menschen mit Durchbruchinfektionen machen nach bisherigem Kenntnisstand weniger als 1 Prozent der Immunisierten aus. Das ist extrem wenig. Wer also geimpft ist, kann entspannt im Biergarten sitzen und muss keine schwere Covid-19-Erkrankung befürchten.

Auch Auffrischungsimpfungen werden nach bisherigem Wissensstand für die Mehrheit nicht nötig sein. Zwar weiß man inzwischen, dass nach einem halben Jahr das Antikörperlevel sinkt. Charité-Virologe Christian Drosten empfiehlt eine Auffrischung im Herbst aber erst mal nur für alte Menschen sowie bestimmte Risikogruppen. Alle anderen brauchen eine solche Auffrischung zunächst nicht.

Was die Situation auf jeden Fall auch anders macht als noch im Frühjahr: Mehr als 58 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger sind inzwischen vollständig geimpft, weitere 5 Prozent stehen kurz davor. Seit der Stiko-Empfehlung der vergangenen Woche, mRNA-Impfstoffe auch an Jugendliche zu verimpfen, hat auch in dieser Altersgruppe die Impfbereitschaft deutlich zugenommen. Das heißt: Eine Inzidenz von 50 ist damit nicht mehr ganz so dramatisch wie noch zu Beginn des Jahres, als kaum einer geimpft war und für jeden fünften Hochbetagten eine Infektion tödlich verlief.

Und trotzdem: Die Annahme, dass die bereits begonnene nächste Welle das Gesundheitssystem nicht bald schon wieder an Belastungsgrenzen bringen werde, könnte sich als trügerisch erweisen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind hierzulande noch nicht vollständig geimpft, das sind fast 30 Mil­lio­nen. Und angesichts der ansteckenderen Deltavariante und der Tatsache, dass Geimpfte zwar sehr viel weniger schwer erkranken, aber sehr wohl unentdeckt das Virus weitertragen können, wären die Kranken­betten dann doch rasch wieder alle belegt. Jeder, der dann – egal ob wegen ­Covid oder wegen etwas anderem – eine Krankenhausbehandlung benötigt, wäre von der Überlastung der Krankenhäuser unmittelbar betroffen.

Eine Pandemie lässt sich nur weltweit bekämpfen

Und warum es letztendlich auch weiterhin wichtig bleibt, die Infektionszahlen niedrig zu halten: Die wahrscheinlich größte Gefahr droht uns mit neuen Mutationen, die die Immunabwahr durch den bestehenden Impfschutz möglicherweise doch komplett umgehen könnten. Und je höher die Fallzahlen sind, desto größer ist auch die Gefahr, das genau das passiert. Das Virus könnte dann auch für die Geimpften wieder lebensgefährlich werden.

Umso wichtiger ist es daher, die hierzulande nicht verwendeten Impfdosen auf keinen Fall zu horten, womöglich gar wegzuschmeißen, sondern rasch an die Länder weiterzureichen, wo Impfstoffknappheit herrscht. Und das ist in den meisten Ländern der Welt der Fall. Eine Pandemie lässt sich eben nur weltweit bekämpfen. Oder, wie es der WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan formuliert: Menschen eine Auffrischimpfung anzubieten ist so, als würde man Menschen mit Rettungswesten noch eine weitere Weste dazugeben – während viele Millionen sich ohne jegliches Hilfsmittel über Wasser halten müssen.

Was der Herbst und der Winter aufgrund dieser unsicheren Entwicklungen bringen wird, kann niemand seriös beantworten. Es bleibt zu wiederholen: Impfen hilft. Nicht zuletzt angesichts der ökonomischen und sozialen Verwerfungen, die ein weiterer Lockdown mit sich bringen würde, sollte die Einführung einer Impflicht kein Tabu mehr sein.

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