Die These: Stressfaktor Sommer

Endlich Freibad! Endlich Urlaub! Endlich Grillen! Endlich alles! Der Deutschen liebste Jahreszeit ist vor allem eines: Überforderung pur.

Mann springt ins blaue Wasser und es spritzt

Arschbombe voraus: Der Sommer kann so schön anstrengend sein Foto: Karsten Thielker

Hach, Sommer! Alle Probleme sind vergessen (na gut, in Rosé ertränkt), die Sonne scheint (wenn es nicht gerade bis zur Überschwemmung regnet) und man darf sich endlich wieder umarmen (es machen jedenfalls alle, ständig, überall). Nach Monaten der Entbehrung sind wir mittendrin in der ausgewiesenen Lieblingsjahreszeit der Deutschen, jetzt muss schnell alles nachgeholt werden, was uns im Herbst, Winter und Frühling verwehrt blieb. Pandemie, ähm, war da was?

Gut, die Urlaubsplanung ist in diesem Sommer etwas speziell: Die einen sind sofort nach der Verkündung der Lockerungen für zehn Tage an die Ostsee aufgebrochen, um sich dort gemeinsam mit allen anderen endlich mal wieder Ruhe und Entspannung zu gönnen. Die anderen wissen immer noch nicht, ob, wann und wohin sie fahren sollen; sie beobachten unruhig die Inzidenzwerte, grübeln, ob ein Urlaub wirklich vertretbar ist und ob er nicht womöglich ins Hochrisikogebiet fällt, wenn sie erst in der Nachsaison buchen. Wieder andere können sich nach dieser finanziell schwierigen Zeit gar keinen Urlaub leisten. Eine vollumfängliche Leichtigkeit will sich irgendwie nicht so richtig einstellen.

Aber machen wir uns nichts vor: Der Sommer war immer schon anstrengend. In diesem Jahr, unter dem pandemischen Brennglas, wird das nur noch deutlicher als sonst. Das Bedürfnis, alles nachzuholen, wonach wir uns in den langen, kalten Monaten gesehnt haben, der Ausblick auf den nahenden Herbst – alles wie immer, nur krasser. Die Erzählung von endlos langen, unbeschwerten Sommertagen und flirrender Leichtigkeit ist eine Utopie, ein Relikt aus der Kindheit, als sich sechs Wochen Sommer­ferien anfühlten wie ein ganzes Leben.

Keine andere Jahreszeit birgt so viele Verheißungen wie der Sommer (logisch, sonst hieße es ja auch Verkaltungen): Gartenpartys, braune Beine, nächtliche Arschbomben in den See! Endlich nicht mehr wissen, wo der eigene Körper endet und die Luft anfängt, endlich nicht mehr einsam sein, sondern verbunden mit der Welt!

Die Erwartungen steigen mit den Temperaturen

Doch Verheißungen implizieren eben immer auch Erwartungen. Und die steigen synchron mit den Temperaturen. Am Ende ist man allein vom Gedanken an alles, was man eigentlich machen sollte, ganz erschöpft, aber wer deshalb beschließt, im abgedunkelten Zimmer lieber ein bisschen fernzusehen, hat sie ja wohl nicht alle. Hallo, es ist Sommer, da muss man doch raus!

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Irgendwann knicken selbst diejenigen ein, die sich von der Sonne nicht vorschreiben lassen, wie sie ihren Tag verbringen. Sie gehen picknicken im Park, tauschen die Turnschuhe gegen luf­tigere Modelle und schmoren zufrieden im eigenen Saft, der ihnen die Kniekehlen, Bauch- und Pofalten hinunterrinnt. Aber gerade dann, wenn sie sich endlich so richtig auf den Sommer eingelassen haben, ist er schon fast wieder vorbei.

Es beginnt damit, dass Anfang Juni der erste Newsletter mit dem Betreff „Sommerschlussverkauf“ im Posteingang landet, woraufhin das Anti-Stress-Deo augenblicklich versagt. Moooment, man war noch nicht mal anbaden, wie soll man den vorbeieilenden Sommer jetzt bloß noch einholen? Also rennt man los und macht alles, was man eben so macht, während einem auf halber Strecke der 21. Juni durchs Megafon zuruft: „Ab heute werden die Tage wieder kürzer!“

Wie viele Kugeln Eis, wie viele Sonnenstrahlen?

Spätestens dann ist es Zeit für eine Bilanz. Wie oft saß man bis spät in die Nacht auf dem Balkon, wie viele Aperol Spritz hat man getrunken, wie oft Wassermelone-Feta-Minz-Salat gemacht, wie viele Kugeln Eis hat man gegessen, wie viele neue Espadrilles hat man gekauft, weil die alten das warme Sommergewitter nicht überlebt haben?

Wie oft lief man mit nackten Füßen durchs Gras, wie viele Bienenstiche hatte man, schmerzhafte und schmackhafte? Wie oft lag man einfach nur rum und guckte in den blauen Himmel? Wie oft war man im Freiluftkino, hat Tischtennis gespielt, wie viele Tuben Sonnencreme geleert, wie viele Picknicks gemacht? Hat man wie Frederick genug Sonnenstrahlen und Farben gesammelt, um den nächsten Winter zu überstehen – oder ist einem selbst eine Feldmaus überlegen, wenn es darum geht, aus dem Vollen zu schöpfen?

Die gute Nachricht ist, dass der Herbst schon winkend im Ziel steht. Ohne Stoppuhr, ohne Druck. Und wenn der Spätsommer dann auch noch unerwartet lau, der Oktober golden und der November knackig bunt wird, spürt man endlich wieder ein bereits verloren geglaubtes Gefühl: Dankbarkeit. Weil nichts mehr muss, sondern nur noch kann.

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