Neues Album „Nine“ von Sault: Hoffnungslosigkeit klingt funky

Von den Straßen Londons handelt das neue Album der britischen Band Sault. „Nine“ lässt sich für 99 Tage kostenlos im Netz herunterladen.

Blick auf ein heruntergekommens Hochhaus mit kleinen Balkons. Die Bandmitglieder von Sault wuchsen auch in Sozialbauten von London auf.

Sozialbauten in London, auch Sault wuchsen dort auf Foto: Katie Collins/PA images/imago

Ungefähr in der Mitte des neuen Albums der britischen Band Sault wird die Musik unterbrochen, damit Michael Ofo „Mike’s Story“ erzählen kann. Ofo spricht ruhig, mit einprägsamer Melodik, manchmal aber kommt er doch ins Stocken. Kein Wunder bei dem, worum es geht.

Ofo beschreibt die Nacht, in der sein Vater ermordet wurde, er berichtet von den Tränen der Mutter und den eigenen, die ihm kamen, weil er ihren Schmerz in sich spürte, von der Fahrt auf dem Rücksitz des Polizeiautos, die sich in seine Erinnerung eingebrannt hat, davon, wie taub er sich damals gefühlt habe.

Es ist eine persönliche Geschichte, die von Verlust und Trauer handelt, aber sie steht da eigentlich nicht für sich, sondern für viele Geschichten, ähnliche Geschichten, die man erzählen könnte und die in den Texten auf „Nine“ mitschwingen und mit ihnen die großen, vor allem schweren Gefühle. „The pain is real“, wie es im Song „Fear“ heißt, auch wenn es beim ersten Durchhören vielleicht gar nicht so klingen mag.

Sault sind eine britische Band, eine ziemlich produktive und die vielleicht bekannteste unbekannte derzeit. 2019 ließen sie erstmals von sich hören. „5“ und „7“ lauteten die Titel der beiden EPs, die sie damals im Mai und September veröffentlichten – und in deren Zusammenhang „Nine“ offensichtlich zu verstehen ist.

Band-Mitglieder sind unbekannt

2020 folgten zwei weitere Alben „Untitled (Black is)“ und „Untitled (Rise)“. Dass der Londoner Produzent Dean „Inflo“ Josiah Cover ein Mitglied von Sault ist, gilt als sicher, die Sängerin Cleo Sol, aber sonst weiß keiner genau, wer da noch mitmischt. Nur die jeweiligen Gast­mu­si­ke­r*in­nen werden benannt. Von der Presse halten sich Sault fern, Live-Auftritte gibt es nicht, Fotos logischerweise erst recht nicht.

Sault: „Nine“ (Forever Living Originals), als Gratisdownload erhältlich oder als Vinyl vorzubestellen bis zum 2.10. über www.sault.global; als LP/ CD lieferbar ab Anfang Oktober 2021

Mit diesem eigentlich so gar nicht in die Spektakelmaschinerie des Pop passenden Verhalten haben Sault quasi durch die Hintertür umso nachdrücklicher auf sich aufmerksam gemacht, indem sie die Proteste nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd, die Black-Lives-Matter-Bewegung, mit der passenden Musik unterfütterten, die Wut, den Schmerz vertonten – auf „Wildfires“ zum Beispiel, einem traurigschönen Song über Polizeigewalt und Widerstandskraft.

Die Musik von Sault hat der Guardian einmal treffend mit der Kunst des afroamerikanischen Künstlers Arthur Jafa verglichen, insbesondere mit dessen bekanntester Arbeit „Love Is the Message, The Message Is Death“, einer bildgewaltigen Videocollage, die auf ebenso verstörende wie mitreißende Weise Bewegtbildschnipsel zu einem visuellen Essay verpuzzelt, der zusammenfasst, was die Erfahrung Schwarz zu sein ausmacht.

Gewissermaßen machen Sault dasselbe auf auditive Weise, was sie collagieren, sind Stimmen, Geschichten, Musikstile, Schwarze Musikstile. Auf „Nine“ sind das Soul und Funk, Gospel, Blues, Disco, Trap und Afrobeat. Leicht ins Ohr geht dieser Mix, vor allem dann, wenn Cleo Sol ihre Stimme erklingen lässt. Sols Soulgesang umschmeichelt den Gehörgang so gefühlvoll und klar, dass die Songs sich dort gleich festhaken und nachwirken.

Ohrwurmtaugliche Musik

Auf „Bitter Streets“ etwa oder Saults ebenso melancholischer Ode an den „Alcohol“. Es ist eine Verführungsstrategie, mit der die Band schon auf den vorigen Alben gearbeitet hat. Sault setzen auf eingängige, ohrwurmtaugliche Musik, damit ihre Hörerinnen und Hörer die Songs wieder und wieder hören und immer genauer hinhören, bei „Mike’s Story“ und all den anderen.

Die Songs führen auf „Nine“ in Saults Heimat, nach London, in die Abgründe der Straßen der britischen Hauptstadt. Am 22. Juni, wenige Tage vor dem Erscheinen, hatte die Band ihr neues Album angekündigt, per Instagram-Post. Das Foto zeigt eine Wohngegend Londons, eine jener als soziale Brennpunkte geltenden Council Estates, schäbige Sozialwohnungssiedlungen, wo Jugendliche leben, wie sie selbst mal welche waren.

„Some of us are from the heart of London’s council estates where proud parents sought safer environments to raise their families. Community is the only real genuine support & the majority of us get trapped in a systemic loop where a lot of resources & options are limited. Adults who fail to heal from childhood traumas turn to alcohol & drugs as medicine“, lautet der Text unter jenem Post. Er steckt die Themen ab, von denen „Nine“ handelt.

Um das Erwachsenwerden geht es, um Jugendgangs, die solche sind oder als solche betrachtet werden, um Rassismus und Polizeigewalt, um überforderte Eltern und um Alkohol, um ein Leben, das keine wirklichen Chancen bietet. „Trap Life“ etwa vertont die Hoffnungslosigkeit als funky Loop mit hypnotisierendem Rhythmus, der gegen Ende des Stücks in einen durchdringenden elektronischen Beat übergeht.

Der Polizei ist nicht zu trauen

„We trap on these blocks / And we don’t trust these cops“, heißt es darin, „Tell me who’s taking shots, shots, shots / I wanna be free / Free my fam' and my mind / ’Cause we're locked up inside / Please don't reach for that nine, nine, nine.“

Die Häuserblocks erscheinen als Mikrokosmen mit unverrückbaren Gesetzen und vorab festgelegten Rollen. Der Polizei ist nicht zu trauen, wer den Notruf (999) wählt, bringt sich selbst in Gefahr. Wie auch sonst die Gefahr zu lauern scheint, überall, darauf spielt schon, gar nicht mal so subtil, das Motiv des Coverbilds an. „Nine“ steht dort geschrieben, aus Streichhölzern gelegt. Fehlt bloß noch der Funke.

Politisch und programmatisch ist quasi alles zu verstehen, was Sault machen, und daher gewiss auch, dass das nur 35 Minuten kurze Album mit Gelächter beginnt. Mit „Haha“, einem verwirrenden Song ohne viel Text, aber mit viel „Haha“, das gar nicht mal so lustig klingt.

Ist es eine Aufforderung zu lachen, um nicht zu weinen? Und worüber überhaupt? In „How About the Love“ löst es sich es an einer Stelle auf. Das ständige Gefasel über die Liebe könnte also gemeint sein, die Art und Weise wie sich derzeit alle, vor allem die, die eigene Vorteile oder ein Geschäft wittern, sich scheinbar für die Liebe und gegen den Rassismus starkmachen.

Vielleicht gilt Saults Lachen aber auch der Unterhaltungsindustrie, unter deren üblichen Gesetzen sich Sault weiterhin erfolgreich hinwegducken. Nicht nur, was die Anonymität angeht, sondern auch den Vertrieb.

Kostenloses Album für 99 Tage

Ihre Alben stellen sie zum kostenlosen Download auf ihre Website, auch das neue, nur gibt es da einen weiteren Dreh: „Nine“ ist zwar ebenfalls wieder frei auf www.sault.global verfügbar, aber nur für 99 Tage. Auf der Website läuft ein Countdown bis zum 2. Oktober. Auch die Vinylversion wird es nach dessen Ablauf nicht mehr zu kaufen geben, Verknappung als Prinzip der maximalen Aufmerksamkeitssteigerung.

Ob das so auch bei den Strea­ming­diensten umgesetzt werden wird, ist fraglich, darauf ankommen lassen sollte man es besser nicht. Viel zu riskant wäre es, den 2. Oktober verstreichen zu lassen, ohne sich „Nine“ zu sichern, wenn dann davon womöglich tatsächlich weniger übrigbleibt als von einer Handvoll komplett heruntergebrannter Streichhölzer.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.