Wo Projektionsflächen aktiv werden

Im Haus am Lützowplatz findet Anna Meyer bonbonfarbene Bilder für die Krisen unserer Zeit

Am Ende bleibt für die Künstlerin trotz aller Krisen eben doch die Hoffnung

Von Beate Scheder

Tizians Gemälde „Tarquinius und Lucretia“ zum Beispiel: Das Bild, das der venezianische Maler 80-jährig im Jahr 1571 malte, zeigt ein klassisches Sujet der Kunstgeschichte, die grausige römische Sage um die beiden titelgebenden Personen nämlich, in der die verheiratete Bürgerin Lucretia nach einer Vergewaltigung durch den Herrscher Tarquinius Suizid begeht, um die Ehre ihrer Familie zu schützen. Tizians Darstellung der Begegnung der beiden ist für seine Zeit, in der die Literatur und Kunst noch wild über Lucretias Mitschuld fantasierte, recht ungewöhnlich, zu sehen ist tatsächlich eine Gewalttat. Der Unterschied zwischen einvernehmlichem Sex und einer Vergewaltigung scheint dem Künstler offenbar durchaus bewusst gewesen zu sein – ein Objekt bleibt die nackte Lucretia aber auch bei ihm.

Für die Künstlerin Anna Meyer, der das Haus am Lützowplatz gerade eine Einzelausstellung widmet, war das Bild eines der Ausgangspunkte für ihren Bildatlas „Future Feminismus – Wir lebten in 100 Jahren“. 2007 hat die Künstlerin damit begonnen, Darstellungen weiblicher Körper aus der Malereigeschichte, feministischer Kunst sowie Popkultur mit eigenen nackten Selbstporträts kombiniert auf Plexiglas zu übertragen, zu kommentieren und so eine Art feministische Variante von Aby Warburgs Mnemosyneatlas zu entwerfen.

Tizians Bild etwa stellt sie (unter anderem) eine Ikone der feministischen Avantgarde gegenüber, das Selbstporträt Lynda Benglis aus dem Jahr 1974, auf der sich die Künstlerin einen übergroßen Dildo an den nackten Körper hält. Benglis schaltete das Bild damals als Werbeanzeige im Kunstmagazin Artforum, weil das Magazin es als Künstlerinnenporträt nicht abdrucken wollten. Um solche Akte der Selbstermächtigung geht es Meyer in ihrem Bildatlas: „Die Projektionsflächen werden aktiv und vereinnahmen die Projektionen“ heißt es auf einer weiteren der Tafeln.

In der Installation im Haus am Lützowplatz überlagern sich die Abbildungen auf dem durchscheinenden Material: Courbet, Lucian Freud und Rubens mit Hannah Wilke, Maria Lassnig, Lee Lozano und Nicole Eisenman mit Porträts von PJ Harvey und Courtney Love mit der Malerei von Meyer selbst, auf denen diese den Benachteiligungen von Künstlerinnen im Ausstellungsbetrieb großer Institutionen den Mittelfinger zeigt oder sich mit einem Pinsel selbstbefriedigt.

Auf einer der neuesten Tafeln sind Kamala Harris und Amanda Gorman zu sehen und eine Porträtstudie des Schwarzen französischen Kunstmodels Joseph aus dem 18. Jahrhundert von Théodore Géricault. Längst nicht abgeschlossen ist das Projekt, Meyer differenziert ihre Themen, in Auseinandersetzung mit dem, was ihr begegnet, stetig weiter aus.

Für die weiteren Arbeiten in der Ausstellung trifft dies ebenfalls zu. Auch da greift sie aktuelle Diskurse auf. Um Klima- und Globalismuskritik geht es, ebenso wie um Verschwörungstheoretiker, Querdenker, Impfgegner, um die komplizierte Gemengelage von Populismus und Protestbewegungen, die wachsende Macht von Digitalkonzernen, die Unübersichtlichkeit der Gegenwart.

Lustig bunt wie Bonbons sind jedoch die Bilder, die Meyer für all das findet, sowohl was ihre Malerei betrifft als auch ihre Multimediainstallationen aus Knetmännchen, kleinen Videos, Pappe, Bastel- und allem möglichen anderen Material. Am Ende bleibt für die Künstlerin trotz aller Krisen und Kompliziertheiten eben doch die Hoffnung – auf Veränderung oder zumindest Denkanstöße. „Hopesters“ hat Meyer die Schau genannt, zusammengesetzt aus den Wörtern „Hope“ und „Hipster“.

Anna Meyer: „Hopesters“, bis 5. September, Haus am Lützowplatz