Die Vergangenheit ist nicht vergangen

Das Musikvestival in Aix-en-Provence glänzt mit der Uraufführung der Oper „Innocence“ der finnischen Komponistin Kaija Saariaho

Die Hochzeit, bei der die Vergangenheit sichtbar wird. Szene aus „Innocence“ Foto: Jean Louis Fernandez

Von Joachim Lange

Das Musikfestival in Aix-en-Provence (das noch bis 25. Juli läuft) sieht sich selbst in der Liga, in der auch Salzburg, Bayreuth oder Glyndebourne (in Sussex) spielen. Daneben hat es den Charme Südfrankreichs auf seiner Seite. Im vorigen Sommer im Online-Exil, jetzt wieder live. Für die Zuschauer nur mit Gesundheitspass, aber ohne freie Plätze zwischen ihnen. Fußballfeeling in der Hochkultur, nur mit Maske und ohne Gebrüll von den Rängen. Bravi-Rufe aber gab es. Besonders für eine Uraufführung.

Erfolg finnischer Künstlerinnen

An deren Erfolg haben finnische Frauen einen besonderen Anteil. „Innocence“ (Unschuld) ist die fünfte Oper der seit ihrem Salzburger Opern­erstling aus dem Jahr 2000, „L’amour de loin“, weltweit geschätzten, 1952 in Helsinki geborenen Komponistin Kaija Saariaho. Die Romanvorlage und das Libretto zu dieser Geschichte über ein Schulmassaker stammen von deren Landsfrau Sofi Oksanen. Und am Pult des hochpräzisen London Symphony Orchestra stand die ebenfalls aus Finnland stammende Dirigentin Susanna Mälkki. Da auch Vilma Jää in der Rolle eines der ermordeten Schulmädchen mit ihren markant trompetenden Folktönen einen besonderen Akzent setzt, könnte man fast von einem Festspieltriumph der Frauen (aus dem Norden) sprechen. Allerdings stünde einer solchen zeitgeistigen Überschrift entgegen, dass Regisseurin Lotte de Beer mit ihrem „Figaro“ für einen Flop und Alleskönner Barrie Kosky mit „Falstaff“ für einen Coup des Festspieljahrs in Aix sorgten. Auch Simon Stone zeigte sich als Regisseur der Uraufführung von „Innocence“ in Hochform.

In dem modernen, wandelbaren Drehbühnenhaus von Cloe Lamford erleben wir sowohl ein zehn Jahre zurückliegendes Schulmassaker als auch den gründlich scheiternden Versuch der Familie des Mörders, mit einer Hochzeit die Rückkehr in die Normalität zu installieren. Dass die Braut von dieser Vorgeschichte nichts weiß und der Bräutigam bei der Wahnsinnstat seines Bruders eigentlich mitmachen wollte, kommt erst nach und nach ans Licht. Eine auf die Schnelle als Ersatz engagierte Kellnerin (grandios: Magdalena Kožená) ist nämlich zufällig die Mutter eines der Opfer.

Geschickt vermischen sich im Libretto dabei die beiden Zeitebenen: die Hochzeit von heute und das Attentat von damals. Mit atmosphärischem Dräuen bleibt das Rumoren der Traumata in der Musik präsent. Staunen lässt zudem, wie sich die 13 in 9 (!) Sprachen agierenden Charaktere profilieren. In meist gesprochenen Passagen erinnern sich die überlebenden Schüler und eine Lehrerin an jenen schlimmen Tag und berichten von den Folgen für ihr weiteres Leben.

Natürlich ist auch für die Eltern der ermordeten Kinder nichts wirklich vergangen. Der Kellnerin ist ihre getötete Tochter wie ein Geist sogar physisch gegenwärtig. Erst am Ende ermutigt die ihre Mutter, sie gehen zu lassen.

Saariahos packende Musik ist der adäquate Sound für diesen 105-minütigen Opernthriller. Sie schielt nicht auf die Extravaganz des Neuen um jeden Preis, sondern setzt (mit Recht) auf ein Nachleben des Werkes auf den Opernbühnen der Welt. Nach diesem Bilderbuchstart hat „Innocence“ dafür die besten Chancen!