Was man in sich selbst sonst nicht hätte sehen können – Hinweis auf „Schmidt liest Proust“ von Jochen Schmidt

Es ist eine stolze Lebensleistung, die ‚Recherche‘ geschafft zu haben, nicht weil sie so lang ist, sondern weil man, um sie zu lesen, seine Seele stimmen muss wie ein Instrument. Man könnte sagen, dass man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren.“

Diese so emphatischen Sätze stehen in dem Buch „Schmidt liest Proust“ des Schriftstellers Jochen Schmidt, das zwar schon 12 Jahre alt, aber immer noch eines der erhellendsten, eindringlichsten und auch lustigsten Bücher über Marcel Proust ist und nun, aus Anlass des 150. Geburtstages, in einer erweiterten Neuauflage beim Verlag Voland & Quist aufgelegt wurde (608 S., 28 Euro). Ursprünglich war das ein Blog. Jochen Schmidt nahm sich täglich 20 Seiten aus der „Suche nach der verlorenen Zeit“ vor, berichtete Tag für Tag von seinen Leseeindrücken und führte parallel Tagebuch. Anschaulich hält er dabei die Erfahrung fest, dass das Proust-Lesen etwas mit einem macht. Proust selbst ging ja davon aus, dass Lesen ein Akt der Selbstreflexion des Lesenden ist und zum Teil – von da her rührt auch die Emphase in den Sätzen Jochen Schmidts – ein Selbstschöpfungsakt. In der „Recherche“ heißt es: „In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, eigentlich der Leser seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte sehen können.“

Diesen Gedanken beglaubigt Jochen Schmidt aufs Gründlichste. Er bedient sich des optischen Instruments und lässt sich von der „Recherche“ lesen, in dem Sinne, dass er sein eigenes Leben sich in der neurotisch hoch gespannten Wahrnehmungs-, Analyse- und Gefühlsdarstellungsfähigkeit Marcels Prousts spiegeln lässt, und zwar ohne dabei einem Geniekult zu verfallen. Frotzelnd registriert er die Überspanntheiten Prousts, staunend beschreibt er die Einsichten, die man aus seiner funkelnden Bewusstseins- und Salonwelt gewinnen kann – über die Kompliziertheiten des Lustempfindens etwa, die gesteigerten Höllen der Eifersucht und die Brutalität der feinen Unterschiede in einer Gesellschaft, in der sich Adelige und Aufsteiger begegnen.

Schmidt unterzieht Proust einem verschärften Gegenwartstest. Dass ihn sein eigenes Leseprojekt gelegentlich nervt, verschweigt er keineswegs. Aber immer wieder stößt man auf tolle Stellen, an denen sich die Wahrnehmungen des eigenen Schmidt-Alltags und der fernen Proust-Welt miteinander verschränken. „Schmidt liest Proust“ berichtet in aller Komik und Lakonik, Konkretheit und Genauigkeit davon, wie erfüllend es sein kann, sich von Marcel Proust die Seele stimmen zu lassen. (drk)