Schweiß, Noise und Post-Schlager

Die Veranstalter von Shameless/Limitless haben seit 2008 mehr als 500 Shows und Konzerte in Berlin organisiert. Der Band „Please Come“ ist wie ein Archiv dieser Jahre. Er spiegelt Ideenfülle, Experimentierlust und Machergeist

Der Vibe von Shameless/Limitless: Foto von der Party zum 10-jährigen Bestehen im Dezember 2018 Foto: Slanted Publishers

Von Jens Uthoff

Es ist ein Schnappschuss, bei dem man fast automatisch einen Augenblick verweilt. Man sieht: einen dunstigen kleinen Club mit dicken Lautsprecherboxen, Musikerin Molly Nilsson steht als DJ hinter den Decks, sie hat das Haar rötlich-orange gefärbt und trägt ein rosa Oberteil mit Plüsch-Stola. Menschen drängen sich davor auf der Tanzfläche, im Vordergrund stehen drei junge Frauen. Die drei singen mit, haben die Augen geschlossen, heben die Köpfe. Sie sind ganz bei sich, gefangen im Moment.

Dieses Foto, das eingangs im Band „Please Come“ zu sehen ist, gibt den Geist, die Attitüde, den Vibe der Veranstaltungen von „Shameless/Limitless“ gut wieder. Hinter dem Namen Shameless/Limitless (kurz S/L) verbirgt sich eine seit 2008 existierende Berliner Veranstaltergruppe, die Konzerte und Partys organisiert. Gegründet wurde sie seinerzeit von den aus Kanada stammenden Brüdern Eric und Kevin Halpin sowie Graeme Mitchell; treibende Kraft ist seit einigen Jahren Kevin Halpin. In all den Jahren hat S/L mehr als 500 Shows veranstaltet, das vielsagende Foto wurde auf einer Party zum 10-jährigen Bestehen im Dezember 2018 aufgenommen.

Der schmucke Band „Please Come“ ist während der Corona-Zwangskonzertpause entstanden, er ist eine Art S/L-Archiv. In ihm sind über 200 Konzertplakate von 2008 bis 2020 versammelt. Gestaltet von verschiedenen Designer:innen, manchmal von den Mu­si­ke­r:in­nen selbst. Daneben enthält der Band Konzertankündigungen und Statements von Künst­le­r:in­nen wie Sean Nicholas Savage, Molly Nilsson oder Linda Fox. Eine erste selbst publizierte Auflage für Familie und Freunde kam Anfang des Jahres heraus, am 7. Juli erscheint das Buch nun offiziell.

S/L-Macher Kevin Halpin, der aus British Columbia stammt und 2008 nach Berlin kam, geht es mit den Shows vor allem darum, Communities zu bilden und ein niedrigschwelliges Zusammensein zu ermöglichen. „Musik war in meiner Jugendzeit prägend für mich, auch wenn ich nicht unbedingt ein Kind der Subkultur war“, erklärt er via Mail. „Ich bin mit dem Spin Magazine, dem Rolling Stone und dem Rock-Radio der Neunziger aufgewachsen, und ich war ein riesengroßer Fan der kanadischen Band Moist. Die Haltung und die Politik, die es in der Rockmusik jener Ära gab, hat sicher Einfluss auf S/L gehabt: Zum Beispiel, dass man eher nicht mit Firmen und Marken kooperieren möchte und dass man die Eintrittspreise niedrig halten will. Auch die Werte der Eishockey-Kultur, aus der ich komme, haben mich geprägt: Es geht um Bescheidenheit, um harte Arbeit und darum, dass es ‚kein Ich im Team‘ gibt.“

Eng verbunden sind S/L mit der internationalen LoFi-Pop-Szene Neuköllns. Künst­le­r:in­nen wie Molly Nilsson, Magic Island und Sean Nicholas Savage sind häufig bei ihnen aufgetreten, Halpin hat diese Szene einmal mit den Begriffen „Softrock“ und „Post-Schlager“ umschrieben. Aber es ist ihm wichtig, dass man seine Konzertreihe nicht auf diesen Zirkel beschränkt: „Es ging nie darum, nur eine Szene oder einen Stil zu bedienen oder uns auf eine bestimmte Venue zu fokussieren. Wir haben ja auch Nächte mit elektronischer Musik, Punkshows und Ambient-/Experimentalkonzerte veranstaltet. Insofern ist diese spezielle Szene eher ein Puzzleteil im großen Ganzen, als dass sie repräsentativ für uns wäre.“

In der Tat, die vielen unterschiedlichen musikalischen Sprachen bei S/L sind auch in „Please Come“ gut abgebildet: Gitarrenbands wie die L.A.-Combo Wand, die Berliner Postpunks von Plattenbau oder die US-Garage-Rock-Kracher von Naomi Punk fanden sich genauso unter den illustren Gästen wie zahlreiche Synth-Pop- oder eben „Post-Schlager“-Künstler:innen. In 40 verschiedenen Clubs hat die Gruppe um Halpin Shows organisiert, darunter schmutzig-schöne Orte wie das Loophole, das West Germany oder die Locations in der Ziegrastraße.

Verbunden sind S/L mit der internationalen LoFi-Pop-Szene

Ideenfülle, Experimentierlust, Machergeist ist auch den Konzertpostern anzusehen. Insgesamt 130 verschiedene De­si­gne­r:in­nen haben die Plakate gestaltet, entsprechend unterschiedlich ist die Ästhetik. Auf dem Poster von Victoria Gisborne-Land sind etwa zwei Frauen mit feinsten voluminösen Frisuren zu sehen, die an Eighties und New Romantic gemahnen. Dann gibt es Plakate wie die von J. Logan Corcoran, Jason Harvey und Sharmila Banerjee, die an das Layout von Kinder-, Teen- und Musikmagazinen früherer Tage erinnern. Zwischen solchen Entwürfen finden sich auch ein Sonnenuntergang mit Delfinen in Pastellfarben (Johanna Dumet) oder eine schräge, bunte Retro-3-D-Ästhetik (Sebastian Dürer). Viele Motive gehen spielerisch mit Kitsch um, sind daher wohl camp, wie man früher gesagt hätte.

Die Coronapause sorgte dafür, dass dieses Archiv in Buchform überhaupt entstanden ist, aber eigentlich würde Halpin natürlich gern wieder Shows veranstalten. Nach vorne gucken fällt derzeit noch schwer: Wenn er Konzerte veranstalte, dann wolle er es nur „richtig“ tun: ohne Distancing, ohne Maskenpflicht und mit möglichst geringem Risiko.

Wenn er hingegen zurückblickt, auf 13 Jahre mit Konzerten, Musik, Schweiß, Noise, Gesprächen und nebligen Nächten, dann muss er etwas weiter ausholen, um ein Fazit zu ziehen: „Anfangs lebte ich in Berlin in der WG meines Bruders. Als ich auszog, sollte ich etwas ins Gästebuch schreiben. Ich ließ die Seite quasi leer, mit dem Hinweis, dass sie für das steht, was für mich in Berlin noch kommen kann. Man könnte die leere Seite als belanglos, uninspiriert, nicht lebensbejahend interpretieren. Oder aber man sieht es als eine leere Tafel, auf die man zahllose Erfahrungen, Sehnsüchte und Errungenschaften schreiben, sie wieder wegwischen und immer wieder durch Neues ersetzen kann. Ich hoffe, S/L steht für Letzteres. Manche mögen es als etwas Unbedeutendes betrachten, ein spärlich besuchtes Konzert in einem kleinen Club zu veranstalten, Hintergrundmusik am Tresen auswählen und ein paar Getränkegutscheine in die Hand gedrückt zu bekommen – aber solange ich es als etwas Großes betrachte, so lange wird es solche neuen, unvergesslichen Erfahrungen für mich geben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

„Please Come: Shameless/Limitless-Selected Posters & Texts 2008–2020“. slanted publishers, Karlsruhe 2021, 536 Seiten, 42 Euro