„Viele hoffen, dass die Fantasien weggehen“

Pädophile werden gesellschaftlich stigmatisiert. Hilfe erhalten Menschen mit diesem Risikofaktor beim Netzwerk „Kein Täter werden“. Ein Gespräch mit der Projektkoordinatorin, der Sexualtherapeutin Laura F. Kuhle

Interview Julia Reinl

taz am wochenende: Frau Kuhle, Sie sind approbierte psychologische Psychotherapeutin, Sexualtherapeutin und Projektkoordinatorin des Berliner Standorts des Netzwerkes „Kein Täter werden“. Wann wenden sich Menschen an das Projekt?

Laura F. Kuhle: Bei uns können sich Menschen melden, die sexuell auf Kinder orientiert sind, darunter leiden und/oder befürchten, erstmalig oder wiederholt Missbrauchsabbildungen zu nutzen oder ein Kind sexuell zu missbrauchen. Die meisten Menschen, die zu uns kommen, stellen schon in ihrer Jugend fest, dass Kinder in ihren sexuellen Fantasien vorkommen. Es kann belastend sein, wenn man merkt, dass es anders ist als bei Freunden oder befürchtet, sich nicht ausreichend kontrollieren zu können. Bis sich Betroffene dazu entschließen, Hilfe zu suchen, dauert es oft viele Jahre. Viele hoffen, dass die Fantasien wieder weggehen.

Die gesellschaftliche Stigmatisierung bezieht sich nicht nur auf den sexuellen Kindesmissbrauch, sondern eben auch auf die Pädophilie an sich. Es ist keinesfalls so, dass alle Menschen mit einer Pädophilie sexuellen Kindesmissbrauch begehen. Die Pädophilie ist zwar ein Risikofaktor, es gibt aber viele andere Risikofaktoren und Motive außer der sexuellen Präferenz. Menschen mit Pädophilie werden verurteilt und ausgegrenzt, unabhängig davon, ob sie jemals zum Täter geworden sind oder nicht. Dies hat starke Auswirkungen auf Menschen mit Pädophilie, die das Stigma für sich selbst übernehmen. Sehr häufig melden sich Betroffene bei uns, die sich selbst für ihre Fantasien verurteilen und deshalb unter anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Ängsten oder Süchten leiden. Meist sprechen sie mit niemand anderem über ihre Fantasien oder holen sich keine Hilfe, wenn sie welche benötigen – bis der Leidensdruck oder die Problemwahrnehmung in Bezug auf die eigene Verhaltenskontrolle zu groß wird.

Wie sieht die Hilfe aus, die sie bei Ihnen erhalten?

Das Präventionsnetzwerk der Berliner Charité „Kein Täter werden“ mit Standorten in Deutschland und der Schweiz richtet sich an Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen. Betroffene erhalten psychotherapeutische, sexualwissenschaftliche, medizinische und psychologische Unterstützung, um mit ihrer pädophilen (für das kindliche Körper­schema) oder hebephilen (für das jugendliche, pubertäre Körperschema) Neigung leben zu lernen. Ziel ist es, sexuelle Übergriffe auf Kinder zu verhindern. „Kein Täter werden“ wird seit 2018 im Rahmen eines Modellvorhabens durch den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen finanziert.

Die Menschen, die sich hilfesuchend an uns wenden, sind sehr unterschiedlich. Ihnen gemein ist aber, dass sie nicht nur eine sexuelle Präferenz für Kinder haben, sondern dass diese Präferenz einen Störungswert bekommen hat und damit behandlungsbedürftig geworden ist. Dieser Störungswert ergibt sich über einen Leidensdruck sowie emotionale und soziale Belastungen und/oder ein Risiko für die Gefährdung von Kindern oder sich selbst. Dementsprechend verfolgt das Präventionsnetzwerk im Sinne der Gesundheitsversorgung das Ziel, den Störungswert der Pädophilie zu behandeln.

Im Schnitt leben zwei Drittel Ihrer Pro­jekt­teil­neh­mer:in­nen in homo- oder heterosexuellen Beziehungen mit Erwachsenen. Wie ist eine stabile Partnerschaft mit einem Menschen mit einer Pädophilie möglich?

Nach unserer Erfahrung ist die Pädophilie in der Regel die geringere Belastung für die Beziehung. Wenn Part­ne­r:in­nen sich als pädophil outen, führt das natürlich zu einer teils großen Erosion in der Partnerschaft. Viele Paare schaffen es aber, ihre Beziehung wieder zu stabilisieren. Eine solche Offenbarung wirft aber häufig auch Fragen bei Part­ne­r:in­nen auf, wie „Bin ich als Part­ne­r:in sexuell gewollt?“, „Kann ich darauf vertrauen, dass es keinen sexuellen Missbrauch von Kindern gibt?“, „Bin ich mitverantwortlich, wenn etwas passiert?“. In Einzel- oder Paargesprächen, aber auch im Rahmen der Angehörigengruppe unterstützen wir die Part­ne­r:in­nen darin, diese Fragen für sich zu beantworten und einen Umgang mit der Situation zu finden. Wichtig ist auch die Vermittlung, dass die Verantwortung für die sexuelle Verhaltenskontrolle ausschließlich bei dem oder der Part­ne­r:in mit der Pädophilie liegt. Es kann Konstellationen geben, in denen Part­ne­r:in­nen dabei unterstützen.

Wie können Ihre Pro­jekt­teil­neh­me­r:in­nen mit ihren Part­ne­r:in­nen ein für beide befriedigendes Sexualleben führen?

Laura F. Kuhle arbeitet als Projektkoordinatorin am Standort Berlin des Präventionsnetzwerks „Kein Täter werden“. Die approbierte psychologische Psychotherapeutin und Sexualtherapeutin behandelt seit mehreren Jahren Menschen mit pädophiler Präferenz­störung. Im Rahmen ihrer Tätigkeit im Präventionsnetzwerk gehören Gruppen- und Einzeltherapien, die Arbeit mit Angehörigen sowie die Forschung zu sexuellen Präferenzstörungen und ihrer Behandlung zu ihrem Kerngebiet.

Grundlegend für eine gute und stabile Beziehung ist, dass die Part­ne­r:in­nen in der Lage sind, sich befriedigend ihre Grundbedürfnisse nach Liebe, Nähe, Geborgenheit, Vertrauen und Angenommensein zu erfüllen. Sexualität hat häufig einen besonderen Stellenwert, da sie ein körpersprachlicher Ausdruck der gemeinsamen Beziehung ist: „Ich nehme dich an. Ich will dir nahe sein. Du kannst bei mir sein, wer und wie du bist.“ Im Sinne dieser sogenannten Beziehungslust können Menschen auch mit einer ausschließlichen Präferenz für Kinder sexuell erlebnisfähig mit erwachsenen Menschen sein. Manche Menschen führen zudem auch ohne gemeinsame Sexualität eine befriedigende Beziehung, solange sie sich diese Grundbedürfnisse erfüllen. An dieser Stelle ist auch noch einmal wichtig, darauf hinzuweisen, dass für viele Menschen die eigene Pädophilie keine ausschließliche Präferenz ist. Neben der Präferenz für Kinder sind sie auch durch das erwachsene Körperschema sexuell ansprechbar und somit eben auch mit erwachsenen Männern und/oder Frauen sexuell erlebnisfähig.

Was raten Sie Paaren beziehungsweise den Part­ne­r:in­nen der Pro­jekt­teil­neh­me­r:in­nen mit Kinderwunsch?

Die Frage, ob das Paar gemeinsam ein Kind bekommen soll, kann nur das Paar für sich beantworten. Im Rahmen des Projekts bieten wir an, die Aus­ein­andersetzung mit dem Thema zu begleiten. Menschen mit Pädophilie und ihre Partne­r:in­nen sind häufig verunsichert, ob es zu einem sexuellen Missbrauch des eigenen Kindes kommen könnte. Auch hier gilt es, Pädophilie und sexuellen Kindesmissbrauch klar voneinander zu trennen. Statistisch gesehen finden die meisten Missbräuche im engen und weiteren familiären Kontext statt, werden aber deutlich häufiger von nicht leiblichen Vätern oder anderen Familienmitgliedern verübt, die eine geringere Bindung zum Kind haben. Es gibt viele Stellschrauben, auch phasenweise eingesetzte triebdämpfende Medikation, mit denen ein potenzielles Risiko kontrolliert werden kann. Das ist keineswegs bei allen Patienten notwendig. Wir haben sehr viele Väter im Projekt, die sich nicht durch ihre eigenen Kinder sexuell angesprochen fühlen.