Hilfe unter der Hand

Nicht alle Geflüchtete haben in Deutschland eine Krankenversicherung. Manche fallen – auch aus Angst vor einer Abschiebung – durchs System. Gerade für schwangere Frauen ist das gefährlich. In Lübeck bekommen sie ehrenamtliche Hilfe im Medibüro

Der Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes verpflichtet Krankenhäuser und Arztpraxen, Informationen über Menschen ohne Aufenthaltsstatus an die Behörden zu übermitteln.

Dieser Passus sorgt dafür, dass Betroffene bei einem Arztbesuch registriert und eventuell abgeschoben werden.

Damit diese Menschen künftig ohne Registrierung medizinische Behandlung bekommen, fordert eine Online-Petition von der Bundesregierung die Abschaffung des Paragrafen 87.

Online auf https://gleichbehandeln.de

Von Friederike Grabitz

Als 2015 und 2016 Tausende Menschen nach Nordeuropa flüchteten, war Lübeck eine wichtige Station für sie. Dass sie hier unbürokratische Hilfe und Fährtickets für die Weiterfahrt bekommen würden, sprach sich schnell herum. Am Bahnhof empfingen Freiwillige des „Flüchtlingsforums“ jeden Tag bis zu 400 Geflüchtete mit „Welcome“-Schildern, führten sie über eine Brücke Richtung Innenstadt und rechts am Fluss entlang zum „Solizentrum“. Dort hatten sie in weißen, einstöckigen Gebäuden eine Infrastruktur für die Geflüchteten aufgebaut.

In einem der Gebäude hielt die Medizinstudentin Sophie Ritter vom „Medibüro“ ihre Sprechstunden ab. „Viele, die damals kamen, mussten erstversorgt oder mit einer Krankheit behandelt werden“, sagt sie. Das „Medibüro“ hilft Menschen, die keine Krankenversicherung haben, vermittelt ihnen eine medizinische Versorgung in einer Arztpraxis und sammelt Geld für größere Behandlungen – auch heute noch. Ein Drittel ihrer Klient*innen sind Geflüchtete, aber es kommen auch Selbständige, die ihre Privatversicherung verloren haben, Spätaussiedler*innen, Langzeit-Reisende, Obdachlose.

Inzwischen ist das „Medibüro“ wieder umgezogen in den Hinterhof eines Renaissance-Hauses im Zentrum. Zwischen Sträuchern und Bäumen singen Vögel, ein Schild weist den Weg zum Büro des Integrationscenters der AWO. Diese stellt den Medizinstudent*innen jeden Montag einen Raum für ihre ehrenamtliche Sprechstunde zur Verfügung.

An einem kühlen Montag im Frühjahr hat dort eine Frau aus Uganda einen Termin. Sie ist im siebten Monat schwanger und war noch bei keiner einzigen Vorsorge-Untersuchung. Lisa (Name von der Redaktion geändert), ist seit zwei Jahren in Deutschland. Sie hat weder deutsche Papiere noch einen Status als Geflüchtete. Um eine Sozialversicherung zu bekommen, müsste sie sich an die Sozialbehörden wenden. Doch die wären nach Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes verpflichtet, sie der Ausländerbehörde zu melden. Dann droht ihr im schlimmsten Fall die Abschiebung. Und weil ihr deutsches Visum bereits abgelaufen ist, wäre selbst eine Heirat mit ihrem deutschen Partner riskant. Denn dafür müsste sie sich von den Behörden registrieren lassen und würde wohl ein Strafverfahren wegen illegalen Aufenthaltes bekommen.

Lea Schwerin, die seit einem Jahr als Freiwillige im „Medibüro“ arbeitet, führt mit einer Kollegin ein Anamnese- Gespräch mit ihr, Lisas Partner dolmetscht. Wie ist ihr allgemeiner Gesundheitszustand, was braucht sie und was ist nötig, um zu helfen? Dann vermitteln sie die junge Frau so schnell wie möglich an eine Frauenarzt-Praxis, die mit dem „Medibüro“ zusammenarbeitet, und sie suchen eine Klinik für die Geburt. „Schwangerschaften sind immer aufregend für uns“, sagt Lea Schwerin, „weil es viel zu organisieren gibt, und die meisten Schwangeren kommen erst kurz vor der Geburt zu uns.“ So wie Lisa.

Inzwischen hat die Frau ihr Kind bekommen, und die Mitarbeiterinnen des Medibüros haben dafür gesorgt, dass das Baby, anders als seine Mutter, von Anfang an krankenversichert ist. Jeden Monat finden zwei bis zehn Klient*innen wie Lisa den Weg ins „Medibüro“. Die Ärzt*innen, die mit dem Netzwerk zusammenarbeiten, behandeln sie kostenlos oder gegen ein geringes Honorar. Gibt es für eine Erkrankung keine Fachärztin, telefonieren die Freiwilligen des „Medibüros“ so lange, bis sie eine*n gefunden haben, der oder die die Behandlung übernimmt.

Zu den Partner-Ärzt*innen gehören auch zwei ehemalige Geflüchtete, die auf der Flüchtlingsroute aus Syrien ins „Solizentrum“ kamen. Sie entschieden sich, in Lübeck zu bleiben. Sophie Ritter und ihre Kommiliton*innen vermittelten ihnen mit Hilfe ihrer Kontakte eine Arbeit in einer Klinik. Nun helfen sie auch ehrenamtlich im „Medibüro“. Etwa die Hälfte der Klient*innen aus Syrien spricht nur wenig Deutsch. Für sie übersetzen sie, wenn nötig, medizinische Ausdrücke und erklären, wie das Gesundheitssystem funktioniert.

„Zu uns kommen diejenigen, die es nicht geschafft haben, hier richtig anzukommen“, sagt Ritter. Manche Geflüchtete sind untergetaucht, nachdem ihr Asylantrag abgelehnt wurde, oder sie befinden sich noch im Asylverfahren. Andere leben in einer Flüchtlingsunterkunft und bekommen dort nur eine Notfallversorgung. Ritter erzählt von einem solchen Klienten, der sich auf seiner Flucht die Hand gebrochen hatte. Er wurde operiert, hatte aber weiter Schmerzen. Ein Orthopäde röntgte die Hand, nun muss er wahrscheinlich noch einmal operiert werden.

Für solche Fälle braucht das „Medibüro“ Spenden. Insgesamt liegt das Budget im mittleren vierstelligen Bereich, aus dem städtischen Integrationsfonds bekommt es eine Fallpauschale von 200 Euro. Das reicht oft nicht. Bei teuren Behandlungen oder chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, für welche Betroffene dauernd Medikamente brauchen, akquirieren die Freiwilligen Gelder.

Besonders schwierig ist es, Hilfe für Menschen mit psychosomatischen Beschwerden oder Traumata zu organisieren. „Wir arbeiten mit dem Zentrum für Integrative Psychiatrie der Uniklinik zusammen“, sagt Ritter. Aber dort werden nur Notfälle behandelt. In diesem Bereich können Menschen ohne Versicherung oft keine Hilfe bekommen. Bei langfristigen Therapien gibt es auch für Krankenversicherte große Versorgungslücken, sie warten ein halbes Jahr oder länger auf eine Behandlung. Auch Corona-Impfungen gibt es für Menschen ohne Krankenversicherung zurzeit nur in Ausnahmefällen, etwa für Obdachlose.

Gleichzeitig ist der Bedarf größer geworden. „Viele Betroffene wissen nicht, dass es uns gibt“, sagt Schwerin. Schon 2014, also vor der zeitweiligen Grenzöffnung, schätzte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Zahl der Immigrant*innen ohne geregelten Status auf 180.000 bis 520.000 Menschen. Heute könnten es deutlich mehr sein.

Geflüchtete ohne Papiere befinden sich wegen der Meldepflicht der Sozialbehörden in einer Zwickmühle. Das bedeutet: Sie oder ihre Kinder könnten zwar eine deutsche Schule besuchen – doch ohne das Risiko einer Abschiebung zu einer Ärzt*in oder in ein Krankenhaus gehen können sie nicht.

Andere sind nicht krankenversichert, weil sie das Gesundheitssystem nicht verstehen. Sie haben Papiere, wissen aber nicht, wie sie eine Krankenversicherung bekommen können. Etwa einem Viertel der Klienten im „Medibüros“ gelingt es nach einer Beratung, versichert zu werden. Ihnen würde eine Clearingstelle helfen, wie es sie zum Beispiel in Hamburg gibt. „Wir sind mit der Stadt im Gespräch, auch hier eine solche Stelle einzurichten“, sagt Ritter. Auch ein anonymer Krankenschein, wie ihn Thüringen hat, würde die Arbeit der Ehrenamtlichen erleichtern.

„Medibüros“ gibt es in vielen Städten wie Rostock, Kiel, Hamburg, Bremen, Oldenburg oder Hannover. Wenn es nach Ritter ginge, muss das nicht so bleiben. „Mein Ziel“, sagt sie, „ist, dass wir eines Tages überflüssig werden“ – wenn es niemanden mehr gibt, der bei der Gesundheitsversorgung durchs Netz fällt.