Ins Exemplarische gepusht

Wenn erschütternde Fluchterfahrungen auf eine naturgemäße Wanderlust des Menschen treffen: Das Theater für Niedersachsen in Hildesheim bringt zwei Stücke über die Migration an einem Abend auf die Bühne – und verhebt sich am eigenen Anspruch

Kann man nichts machen, so sind sie halt, die Menschen, denken bloß ans eigene Überleben: Der zweite Teil des Abends wirkt zynisch Foto: Jochen Quast

Von Jens Fischer

Europa weist Migrierenden die randständige Rolle einer bedrohlich fordernden Minderheit zu. Theater stellen sie immer wieder ins Rampenlicht und appellieren an die Urteilsfähigkeit der Öffentlichkeit. Aber wie das oft Unfassbare ihrer Geschichten auf die Bühne bringen? Wie das Leid darstellbar machen?

Die Antwort des Hildesheimer Theaters für Niedersachsen (TfN) heißt „Nach Europa“, die Dramatisierung einer Episode aus Marie ­NDiayes Roman „Drei starke Frauen“. Um der Stimme Geflüchteter Gehör zu verschaffen, nutzt Regisseur Hüseyin Michael Cirpici also die literarisch hochgelobte, so fiktionale wie realitätstrunkene Schilderung einer an Erschütterungen reichen Fluchterfahrung.

Die Produktion setzt aber nicht auf Authentizitätsvampirismus, sondern auf Vermittlung. Kein Geflüchteter also in der Hauptrolle der Khady Remba, sondern die gebürtige Hildesheimerin Linda Riebau. Was den zweiten Teil des langen Schauspielabends vorbereitet: die deutschsprachige Erstaufführung von „Tut uns leid, dass wir nicht im Meer ertrunken sind“. Emanuele Aldrovandis Stück spielt in einer dystopischen Zukunft, dort sind Eu­ro­päe­r*in­nen im Auswanderungsmodus. Dieser Perspektivwechsel soll die These vom Menschen als Nomadentier ausbreiten.

Erst mal aber will also Khady Demba im Hier und Jetzt aus dem Elend Afrikas nach Europa gelangen. Tragisch grotesk wirkt ihre Geschichte, in der das Alltägliche oft geradezu albtraumhaft daherkommt. Das Befremdlich-Rätselhafte verdeutlicht eine blaue bis knallrote Illumination, auf die Ausweglosigkeit verweist das Szenenbild: Die Protagonistin ist gefangen in einem transparenten Bühnenkasten, kauert wie ein Tier im Zoo am Boden, erhebt sich mühsam als Ich-Erzählerin und kündet von ihrer „Besessenheit“, schwanger zu werden. Denn Kinderlosigkeit ist in ihrer Heimat Senegal als großer Makel definiert. Als aber ihr Ehemann stirbt, schiebt seine Familie die mittellose Witwe in die Hände von Menschenhändlern ab, die sie zum Geldanschaffen nach Europa schleusen sollen. Ein Horrortrip, auf dem Demba als Prostituierte arbeitet, um zu überleben – und beim Erklettern des Grenzzauns der in Marokko gelegenen spanischen Enklave Melilla zu Tode kommt. In dieser Inszenierung tritt sie auf die verspiegelte Hinterbühne ab.

Martin Schwartengräber ist die zweite Stimme des Post-mortem-Monologs, er spricht Zitate der erwähnten Figuren und spielt auch den temporären Freund der hilflos Geflüchteten. Er erscheint dabei erst wie ein Schutzengel, nutzt Demba dann aber auch aus, er verrät und stiehlt. Gegen ihre Verzweiflung und Selbstaufgabe haut sie immer wieder autosuggestive Versuche der Idenitätsvergewisserung heraus: Sie redet sich ein, in jedem noch so erniedrigenden Moment sie selbst geblieben zu sein. Anfangs flackert noch naive Neugier des Aufbruchs durch ihr Bemühen um stoische Würde. Beim Erinnern kommt sie auch ins Spielen des Martyriums ihrer Flucht.

Alles ist zwar inhaltlich wahnsinnig aktuell und irrwitzig gut gemeint, aber der Empathie-buhlende Link in die Wirklichkeit genügt hier nicht für gute Theaterkunst

Da Schwartengräber aber nie ihr Spielpartner wird, alle Rollen nur solistisch mit ähnlich sonorer Coolness abliefert, bleibt Liebau erratisch allein mit ihrem Text. Sie redet, redet und redet, häufig monoton mit Leidensmine. Die Aufführung findet nicht zu karthatischem Spiel – und ebenso wenig zu bleibenden Bildern, um unter die Haut zu fahren. Das alles ist zwar inhaltlich wahnsinnig aktuell, vollgesaugt mit brisanter Gegenwart, irrwitzig gut gemeint, aber der empathiebuhlende Link in die Wirklichkeit genügt hier einfach nicht für gute Theaterkunst. Aber das war ja auch nur der Prolog.

In der Pause zeigt das TfN, dass seine zeitgenössische Ausrichtung in zwei Punkten aber schon viel weiter ist als die anderer Theater: Im Haus gibt es durchweg Unisex-Toiletten, und die Aufführungen des Doppelabends werden mit arabischen Übertiteln präsentiert. Weniger passend ist die Verwöhnatmosphäre im Parkett: Mit gülden getünchten, massiven Holzplatten ist hier jede zweite Sitzreihe überbaut. Die so auf Abstand platzierten Zuschauer haben also ein „Tischlein, deck dich“ vor sich und können durchs Glasperlentheater in den Sektkelchen aufs Elend der Welt schauen.

Das Bühnenbild bleibt nach der Pause unverändert, aber die Weltlage ist eine komplett andere: Wohl die Wirtschaftskrise des Westens und der ökonomische Aufstieg Asiens kehren Flüchtlingsströme um. Nun zahlen Eu­ro­päe­r*in­nen Tausende Euro, um eingepfercht in Containern in andere gelobte Länder des überproportionalen Wohlstandes zu kommen. Aber Autor Aldrovandi lässt den Fluchtkahn havarieren. So wenig wie bei ­NDiaye kommt die Schicksalsgemeinschaft dieser Transitmenschen ans ersehnte Ziel.

In „Tut uns leid, …“ haben die Flüchtenden nicht einmal mehr Namen, sondern treten als der Große, Weiche, Starke und die Schöne auf, sind Beispieltypen sehr unterschiedlicher Fluchtmotivationen. Da ist so ein Wire­card-Männeken, das nach betrügerischen Finanzgeschäften vor der Polizei flieht; ein Schriftsteller reist mit, um Material für sein neues Buch über Emigration zu sammeln; sich beruflich verändern will eine arbeitslose Medizinerin – und der Schleuser halt möglichst schnell möglichst viel Geld verdienen.

„Nach Europa“ – aber zu welchem Preis? Khady Demba (Linda Riebau) ist gefangen in einer ausweglosen Lage Foto: Jochen Quast

Genauso ins Exemplarische gepusht ist das Verhalten der Figuren. Angesichts des Todes auf dem Meer – wie in den Wüsten Nordafrikas – ist der Mensch halt Mensch, nicht edel, hilfreich und gut, sondern egoistisch in seinem archetypischen Überlebenswillen. Dramatisch entwickelt sich das Geschehen über Streitereien und Mordpläne in wechselnden Koalitionen auf den Kannibalismus zu. In den Text hat der Autor noch weitere Aufreger wie den Klimawandel eingearbeitet und halluziniert schließlich Wale symbolisch herbei: als lebenslang durch die Weltmeere wandernde Tiere.

So seien halt auch die Menschen, meint Aldrovandi. Aber so oberflächlich die dramatische Argumentation konstruiert ist, so wenig überzeugend agiert nun das Ensemble. Deutlich wird immerhin, dass es immer gute Gründe zum Abhauen gibt, dass Flucht also nicht an Länder oder Kontinente gebunden ist, sondern abhängt von politischen, sozialen, ökonomischen, meteorologischen, persönlichen Bedingungen; die darauf folgenden Dynamiken sind dann überall wieder sehr ähnlich.

Problematisch aber: Bei Aldrovandi brechen Wohlstandsbürger*innen auf, die ein bisschen besser oder anders leben wollen. Abgleiche mit dem existenziellen Leid, das derzeit Menschen nach Europa treibt, finden nicht statt. Das eine wie das andere als Ausdruck einer grundsätzlichen, naturgemäßen Wanderlust des Menschen zu behaupten, wirkt leider eher zynisch, als dass es eine Kampfansage wäre – wider ein zunehmend gleichgültiges Bewusstsein diesem Thema gegenüber, resultierend auch aus der täglich aufs Neue ohnmächtig machenden Mediendosis Flüchtlingselend.

„Nach Europa“/„Tut uns leid, dass wir nicht im Meer ertrunken sind“: nächster Termin am Fr, 16. 7., 19.30 Uhr, Hildesheim, Theater für Niedersachsen, www.tfn-online.de