Gedanken zum Wahlkampf: Wo Özdemir Außenminister wär

Ein Paralleluniversum bräuchte es, um Fehler ungeschehen zu machen. Und um Wunschkandidaten auf Wunschposten zu befördern.

Cem Özdemir, Claudia Roth, Robert Habeck, Katrin Göring-Eckard und Annalena Baerbock

Die Grünen feiern ihren 40. Geburtstag im Januar 2020 Foto: Mike Schmidt/imago

Vor ein paar Wochen meldeten Boulevardblätter, die Nasa habe ein Paralleluniversum entdeckt, in dem die Zeit rückwärtslaufe. Der Eingang dazu befinde sich in der ­Antarktis. Das erinnerte mich an die Behauptungen von Nazi-Esoterikern, Hitler habe sich einst in eine unterirdische Basis in Neuschwabenland geflüchtet. Neuschwabenland gibt es wirklich. Das Deutsche Reich hat 1939 in diesen Teil der Antarktis eine Expedition entsandt.

Und es gibt auch eine faszinierende neue kosmologische Theorie, die – kurz gesagt – darauf hinausläuft, dass sich, wenn man in der Zeit zurückgeht und die Singularität des Urknalls durchquert, „auf der anderen Seite“ ein Spiegeluniversum vorfindet. Die Sache mit der Antarktis wiederum erklärt sich so, dass dort Teilchen entdeckt wurden, die es nicht geben dürfte. Die beobachtenden Wissenschaftler wollten ihr Erscheinen mit der neuen Spiegeluniversum­theorie erklären.

Das populäre Fantasieren über Paralleluniversen, die unserem gleichen, aber sich in kleinen Details deutlich unterscheiden, erklärt sich aus dem verständlichen menschlichen Wunsch, in einem Paralleluniversum ungeschehen zu machen, was man im eigenen Kosmos verbockt hat. Da ständig Fehler gemacht werden, ist die Vorstellung unendlich vieler Paralleluniversen verlockend.

Vielleicht wünscht sich Annalena Baerbock auch gerade in ein Paralleluniversum. Wenn dem so sein sollte, ist es vermutlich nicht dasselbe, in dem ich gern wäre. Kaum hat sich Baerbock mehr schlecht als recht aus der Lebenslauf-Affäre gezogen, stehen Vorwürfe im Raum, sie habe in ihrem Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“ nicht korrekt zitiert.

Im Zeitalter von Copy and Paste und schnell auf den Markt geworfener Produkte ist es wenig erstaunlich, wenn in einem Buch statt einer Paraphrase eines Gedankens, den die Autorin auch nicht selber gedacht hat, ein halber Satz im Manuskript steht, der wörtlich von jemand anders stammt. Das sollte nicht passieren. Aber es macht einen Unterschied, wer so schlampig arbeitet.

Baerbock will nur Kanzlerin werden

Vor nicht allzu langer Zeit konnte das Publikum dabei zuschauen, wie eine ob ihrer gar nicht so originellen Thesen von Teilen des Feuilletons gefeierte Wissenschaftlerin von ebenjenen Feuilletonisten verteidigt wurde, als sich herausstellte, dass ihr hoch gelobtes Buch Passagen aus gleich mehreren ungekennzeichneten Quellen enthielt.

In der Wissenschaft sollten strenge Regeln gelten. In einem besseren Paralleluniversum würde bestraft, wer sie bricht. In Universen, in denen diese Standards nicht gelten, kann man über kurz oder lang die Universitäten dichtmachen. Aber nee, halt, das geht nicht: Von irgendwem müssen Leute mit politischen Ambitionen ja ihre Doktortitel bekommen.

Annalena Baerbock ist keine Wissenschaftlerin, sie will nur Kanzlerin werden. Für funkelnde Ideen gibt es talentierte Redenschreiber, wobei auch die sich in der Regel mit dem Formulieren allzu kühner Gedanken zurückhalten, weil es in der Politik nach allgemeinem Dafürhalten um die pragmatische Lösung von Problemen geht. Wobei ich mir vorstellen könnte, dass originelle Ideen bei der Problemlösung hilfreich wären.

In Baerbocks Buch heißt es: „Wer immer nur von der Gegenwart aus denkt, verharrt in der Kurzfristigkeit und verliert an strategischer Tiefe.“ Die nicht zitierte Quelle dieser Stelle könnte dieser Satz einer sicherheitspolitischen Expertin sein: „Wer ständig in Krisen denkt, verharrt in der Kurzfristigkeit und verliert an strategischer Tiefe.“

Ja, nun. Was soll man dazu sagen? Wer nicht in die Zukunft schaut, verharrt im Sumpf der ­Gegenwart und bringt uns auch mit Floskeln nicht voran. Das gilt für Experten wie für Kanzlerkandidatinnen. Ich werde also Marco Buschmann von der FDP nicht widersprechen, der sagte: „Die Sache selber ist im Grunde eine Kleinigkeit. Aber beide Seiten putschen den Konflikt mit Kampfbegriffen wie Plagiat und Rufmord immer weiter auf.“ Dann spielte Buschmann den Ball zurück ins Feld des Politischen.

Oder wäre es präziser zu sagen, er versenkte sich in die strategische Tiefe? Er sagte jedenfalls: „Mir wäre lieber, wir würden über die Modernisierung von Staat, Infrastruktur und sozialem Sicherungssystem sprechen.“ Ja, das ist doch mal eine gute Idee! Fragt sich bloß, warum sich die FDP freiwillig für vier Jahre Opposition entschieden hat, als es 2017 darum ging, eine Jamaikakoalition zu bilden, die Staat, Infrastruktur und soziales Sicherungssystem inzwischen längst modernisiert hätte?

Je länger dieser Wahlkampf dauert, desto schmerzlicher wird mir bewusst, wie sehr ich es Christian Lindner übel nehme, dass er die Zukunftskoalition aus Union, FDP und Grünen damals verhindert hat. Ich würde gern in einem Paralleluniversum leben, in dem Cem Özdemir längst Außenminister ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Kulturredakteur der taz. Hat Geschichte und Publizistik studiert. Aktuelles Buch: "'Wir sind die Türken von morgen'. Neue Welle, neues Deutschland". (Tropen/Klett-Cotta 2023).

Bei wieviel Prozent liegen die Parteien? Wer hat welche Wahlkreise geholt?

▶ Alle Zahlen auf einen Blick

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.