Christa Pfafferott Zwischen Menschen
: Der abgestürzte Mauersegler

Foto: privat

Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Macht-verhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Wir gehen zu zweit auf dem Bürgersteig. Es ist einer dieser Sommerabende, an denen die Luft weich ist und Mauersegler schwirren. Vor und zurück, im Takt einer unbestimmten Ordnung. Die Vögel machen aus dem Himmel einen weiten, flirrenden Sommerraum.

Vor uns an einer niedrigen Mauer hängt etwas Unbestimmtes, Dunkles. Beim Näherkommen zeigt sich, dass es ein Vögelchen ist. Es krallt sich am Stein fest, dann fällt es zu Boden. Eins seiner Flügel steht ab. Es versucht vorwärtszukommen, schleppt sich über den Gehsteig. Der Flügel muss gebrochen sein. Es schlägt damit um sich, der Flügel scharrt über den Boden. Ein Geräusch, das nach Sterben klingt.

Es tut weh, das zu sehen. Ein abgestürzter Vogel. Es muss ein Mauersegler sein. Sein Schwanz ist gegabelt, so wie bei den Mauerseglern, die man von unten im Himmel sieht. Oben brauchen sie die Erde nicht. Hier unten fehlt ihm der Himmel. Alles ist dem Vögelchen Anstrengung. Es ist darauf angewiesen zu fliegen. Jetzt schleift es sich voran.

Das Vögelchen gelangt zu Treppenstufen, die zu einem Hauseingang führen und hievt sich langsam hinauf. Als wollte es weg von der Straße, sich in Sicherheit bringen.

Wir schauen im Internet, was man mit einem Vogel mit gebrochenem Flügel macht: „Es ist wie bei Menschen“, steht dort. „Nicht wegschauen. Helfen. Alleine schaffen es die Vögel nicht. Sie verhungern schnell.“

Ich rufe beim Tierheim an. Es ist Samstagabend. Nur der Anrufbeantworter springt an. Ich höre ihn noch nicht einmal ganz ab, wir suchen weiter. Auch die Tierarztpraxen haben geschlossen. Wir überlegen, den Vogel in einen Karton zu packen und zum Tierheim zu fahren, auch wenn es geschlossen hat. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis, wie es weitergeht.

Der Vogel bewegt sich kaum noch. Aber er atmet. Ich rufe noch einmal im Tierheim an und höre den Anrufbeantworter bis zum Ende ab: Außerhalb der Öffnungszeiten solle man wegen eines verletzten Tiers bei der Berufsfeuerwehr anrufen.

Für einen Mauersegler die Feuerwehr rufen? Ich zögere, dann wähle ich die Nummer. Der Mann am Telefon scheint nicht verwundert zu sein, als ich vom Mauersegler erzähle. „Wir kümmern uns darum. Wir kommen“, sagt er. Etwa zehn Minuten später hält ein kleines Auto vor dem Bürgersteig. Eine zierliche Frau steigt aus: „Ich bin von der Stadttaubenhilfe. Die Feuerwehr hat mich gerufen.“

Wir zeigen ihr, wo das Vögelchen liegt. Ohne Zögern umfasst sie es mit ihren bloßen Händen. Sie hält es hoch, das Vögelchen ist ganz still. Es schaut uns aus schwarzen runden Äuglein an: „Schauen Sie mal.“ Die Frau zeigt uns die kleinen gekrümmten Krallen des Vogels. „Sie sind gar nicht gemacht für den Boden. Sie schlafen sogar in der Luft. Er hätte nicht überlebt.“ Ob er es jetzt schaffen wird, fragen wir. „Er hat jetzt auf jeden Fall eine Chance.“

Ich rufe beim Tierheim an. Es ist Samstagabend. Nur der Anrufbeantworter springt an

Sie legt ein Handtuch in einen Karton und bettet den Vogel darauf. „Er kommt jetzt zu einer Päpplerin. Die wird ihn aufpäppeln.“ Päpplerin, was für ein schönes Wort. Und wie tröstend zu wissen. Wenn ein Mauersegler stirbt, kann man eine Nummer anrufen und es geht eine Kette in Gang. Es gibt für alles etwas. Auch, um etwas Kleines, Verletzliches zu retten. Die Frau von der Stadttaubenhilfe verspricht, sich bei uns zu melden, wenn sie hört, wie es mit dem Vögelchen weitergegangen ist.

Zwei Tage später erhalte ich eine SMS mit einem Video: Darauf ist ganz nah ein Mauersegler zu sehen. Er stupst einen anderen Mauersegler unter dem Köpfchen an. Der andere ist zuerst still, dann bewegt er sich leicht. Er hebt das Köpfchen, scheint die Berührung zu genießen. Das Video ist von der Päpplerin, anbei ist eine Nachricht von der Frau von der Stadttaubenhilfe: „Der Segler lag im Sterben, aber der andere Segler holte ihn zurück. Sie sind unglaublich sozial. Ob er es schafft, ist noch nicht raus. Morgen bringt sie ihn zum Tierarzt.“

Ich sehe mir das Video immer wieder an, ich habe Gänsehaut. Der Mauersegler hat einen Freund bei der Päpplerin bekommen, der ihn ins Leben zurückgeholt hat. Nichts ist umsonst und alles ist wichtig. Das Leben kann unendlich zart und fürsorglich sein.