berliner szenen
: Küss mich auf dem Alex

Schon von weitem ist die Stimme zu hören, ein Mezzoso­pran. Am Alexan­derplatz treten täglich Musikanten auf, meist mit Folk oder Rock zur Gitarre, selten mit klassischem Repertoire und noch seltener mit so einer Stimme. Diese, in schöner mittlerer Lage, ist garantiert ausgebildet.

Die Sängerin steht unter einer Überführung, was ihrem Gesang einen dezenten Hall verleiht. Ihre Stimme ist nicht mehr jung, klingt aber viel jünger, als ihre weißen Löckchen erwarten lassen. Nicht wenige, die vorbeigehen, gucken sich erst suchend um, bevor sie erstaunt die Stimme dieser Frau zuordnen, und bleiben dann eine Weile stehen. Auf ihrem Rollator hat sie eine Pappschachtel platziert, und manche werfen einen Euro hinein. Jedes Mal bedankt sie sich mit lachenden Augen und einer leichten Verbeugung, die Hand aufs Brustbein gelegt, wie auf der Profibühne.

Sie war Opernsängerin in Nowosibirsk, bis sie später ins Operettenfach gewechselt ist. Seit 20 Jahren lebt sie in Berlin – sie strengt sich sehr an, diese kurze Auskunft in fehlerfreiem Deutsch zu formulieren. Die italienische Arie vorher schien ihr leichter von den Lippen zu gehen. Jetzt schlägt sie in einem etwas ramponierten Schulheft eine neue Seite auf: Bésame mucho. Nur ein Blick, dann legt sie das Heft beiseite. Sie singt auch Spanisch wie selbstverständlich und vor allem mit herrlichen musikalischen Improvisationen, die der Dramatik des Liebeslieds ein paar ironische Akzente verpassen. Ein vorbeifahrender Rikschafahrer verlangsamt das Tempo und greift pfeifend die Melodie auf – bis eine Passantin textsicher einsteigt: „Bésame mucho como si fuera esta noche la última vez“, küss mich, als ob es unsere letzte Nacht wäre. Ein Lied geht um – na ja, nicht um die Welt, aber um den Platz.

Claudia Ingenhoven