Editorial

Am 22. Juni 1941 überfallen 3,2 Millionen deutsche Soldaten auf einer Frontlänge, die etwa der Entfernung Hamburg–Neapel entspricht, die Sowjetunion. Es ist der Auftakt des „Unternehmens Barbarossa“. Hunderttausende sowjetische Soldaten geraten in den ersten Wochen in Gefangenschaft. Etwa drei Millionen werden bis 1945 in deutschem Gewahrsam umkommen. Im deutschen Gedächtnis ist dieser Tag aber kaum präsent.

Zuvor hatten Hitler und Stalin 1939 einen Pakt geschlossen, gemeinsam Polen überfallen und zielgerichtet Angehörige der Intelligenz, Offiziere, Frauen und Kinder deportiert und ermordet. Für Hitler ist dieser Terror die Vorlage für einen nie dagewesenen, ideologisch begründeten Krieg, dem in der Sowjetunion etwa 27 Millionen Menschen zum Opfer fielen – durch Erschießungen, Aushungern, Zwangsarbeit, Gaswagen, Kälte. Der Massenmord hatte viele Facetten.

Welche Folgen hat dieser von Deutschland angezettelte Krieg heute? Wie bestimmt er unser Verhältnis zu den Völkern Russlands, Weißrusslands, der Ukraine? Wie bestimmt er unser Verhältnis zu den Regierungen dieser Länder? Die Beziehungen Deutschlands zu Russland sind, nach der Euphorie der deutschen Einheit, zerrüttet. Wladimir Putin versucht, ein neues Imperium zu formen und begründet seine Pläne mit Rückgriff auf 1941, dass man den „westlichen Partnern“ nie ganz trauen dürfe und auf Angriffe der Nato vorbereitet sein müsse. Und mit dem Verweis auf „ausländische Agenten“ erstickt er jeden Anflug von Opposition. Stärker noch hat sein belarussischer Vasall Alexander Lukaschenko den Faschismus-Begriff für seine Diktatur instrumentalisiert. Und in der Ukraine gärt im Osten ein Krieg, während Kiew den Weg in die EU sucht. Haben wir als Deutsche dem Land gegenüber eine besondere Verpflichtung?

Wladimir Putin rüstet auch geschichtspolitisch auf. Was auf uns oft wie in Bronze gegossene Ideologie wirkt, hat für Einheimische eine persönliche Bedeutung. In nahezu jeder Familie sind Angehörige durch NS-Wahn ums Leben gekommen. Wer kann die Bedeutung des Wortes „Vernichtungskrieg“ wirklich ermessen? Und wie gehen wir selbst mit diesem Erbe um? Dass es Massenmord nicht nur in Auschwitz und Babyn Jar gab, sondern auch in Gefangenenlagern der deutschen Provinz – diese Erkenntnis rückt erst jetzt ins öffentliche Bewusstsein. Höchste Zeit, dass Staatsanwälte auch gegen diese Wachmänner ermitteln.

Es gibt viele Konflikte mit dem Kreml. Man sollte ihnen nicht ausweichen, schon gar nicht mit dem Hinweis auf den deutschen Überfall. Im Gegenteil. Könnte es nicht sein, dass die Erinnerung an diesen Krieg ein Fundament legt, das nicht von Gasrohren bestimmt wird, sondern von der gemeinsamen Verantwortung? Es wäre uns allen zu wünschen.

Sabine Seifert, Thomas Gerlach