10 Jahre ohne Wehrpflicht: Die Freiwilligenarmee

Am 1. Juli 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Seitdem gibt es Recruitingkampagnen anstatt der Ladung zur Musterung.

Ein Junge wird von einer Ärztin vermessen.

Keine Pflicht mehr: Musterung inklusive ärztlicher Untersuchung Foto: Thomas Schulze/dpa

Die Ladung zur Musterung war für Generationen junger Männer ein einschneidendes Erlebnis. Der Brief vom Kreiswehrersatzamt mit dem Termin und amtlicher Sanktionsdrohung bei Nichterscheinen, die spätere Einberufung, im Falle der Kriegsdienstverweigerung eine bisweilen recht zudringliche Anhörung, verdeutlichten vor allem eines: Macht über Körper und Zeit. „Bürger in Uniform“ hieß das.

Im Zweifelsfall hatte die Uniform aber Vorrang, es galt das Soldatengesetz. Das sich schon seit 1990 ankündigende, dann aber doch recht plötzliche Ende der Wehrpflicht vor zehn Jahren war deshalb ein großer Gewinn an individueller Freiheit. Die Frage, welchen Zweck die Bundeswehr nach dem Kalten Krieg hat, bleibt dabei bis heute seltsam unbeantwortet.

Als der damalige Verteidigungsminister Guttenberg im Mai 2010 bei einer Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg eine Abschaffung der Wehrpflicht kontemplierte, rührte das am Markenkern von CDU und CSU. Von Horst Seehofer bis zu Angela Merkel ging man sofort auf Distanz, „als Partei der Bundeswehr“ sage man selbstverständlich ja zur Wehrpflicht. Innerhalb weniger Monate drehte sich die Stimmung in der Unionsspitze jedoch komplett. Die letzten Wehrpflichtigen der Bundeswehr rückten im Januar 2011 ein. Seit dem 1. Juli 2011 ist die Wehrpflicht zwar formal nicht abgeschafft, aber ausgesetzt.

Vorgeblich ging es dabei um die Erfüllung von Sparvorgaben. So ist der Verteidigungsetat in den vergangenen Jahren „nur“ um mehr als 20 Prozent gestiegen. Nicht zuletzt schlagen die Rekrutierungskosten heftig zu Buche. Statt muffigen Kreiswehrersatzämtern werben heute generische „Karrierecenter“ um den freiwilligen jungen Nachwuchs. Dazu kommen zahllose Teilnahmen an Berufsorientierungsmessen, Infoveranstaltungen und Besuchen an Schulen. Allein für Werbemittel, Anzeigen und dergleichen werden mehr als 30 Millionen Euro im Jahr ausgegeben.

Keinerlei Rechtfertigung mehr

Vorausgegangen waren dem abrupten verteidigungspolitischen Wandel von 2011 zwei Jahrzehnte der Sinnsuche. Mit dem Wegfall des Ostblocks löste sich die wichtigste Begründung für eine große stehende Armee inklusive Wehrpflicht auf. Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU, 1992–1998) ist eng mit dem strategischen Kurswechsel verbunden, von einer reinen Verteidigungsarmee zu einem vollwertigen NATO-Partner, inklusive bewaffneter „Out-of-area-Einsätze“.

In kleinen Schritten, immer auf Sicht fahrend, begleitet lediglich vom Protest der Linkspartei und bis zum endgültigen Einknicken der Grünen 1999 im Kosovokrieg durch Querschläger von deren linkem Flügel, wurde die deutsche Armee fit für den internationalen Kampfjet-Set gemacht.

Die Wehrpflichtigenarmee war so bereits Ende der 1990er nurmehr eine Illusion. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer bewegte sich konstant bei knapp 150.000 im Jahr. Die sogenannte Wehrgerechtigkeit, also die Einberufung aller tauglichen Männer im wehrfähigen Alter, fand sowieso mangels Bedarfs schon längst nicht mehr statt. Presseberichte machten die Runde über gelangweilte Wehrdienstleistende, die mit offensichtlich nutzlosen Tätigkeiten oder gänzlich beschäftigungslos in den Kasernen ihre Zeit totschlugen.

Weniger politische, moralische und juristische Auseinandersetzungen, sondern alltagspraktische Erfahrung zeigte, dass es keinerlei Rechtfertigung mehr dafür gab, halbe Kinder zwangsweise in Uniformen zu stecken und ihnen wertvolle Lebenszeit mit der Ausbildung an tödlichen Waffen zu stehlen.

Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr

Nicht ganz so klar entwickelte sich die generelle Zielvorstellung der deutschen Verteidigungspolitik. Als Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) 2002 erklärte: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“, war das zwar eine markige Zustandsbeschreibung, schließlich ging es um den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, aber eben keine nachhaltig begründete Strategie.

Was genau die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik sind und ob diese zwangsläufig mit der Bundeswehr vertreten werden müssen, scheinen seitdem alle irgendwie zu wissen, aber bis heute niemand präzise definieren zu wollen.

Selbst die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ der Bundesregierung sind eher eine weit auslegungsfähige Stichwortsammlung denn ein Grundsatzdokument. Neben sehr vielen Worten zu Verantwortung für Freiheit und Menschenrechte ist der vielleicht eindeutigste Punkt in dem Papier das Ziel, freie Handelswege und Zugänge zu Rohstoffen zu garantieren.

Der Weg von der unmittelbaren Landesverteidigung hin zu einer Truppe im internationalen Einsatz für die Sicherung wirtschaftlicher Interessen ist ein so fundamentaler Wechsel, dass der Wegfall der Wehrpflicht rückblickend ein wenig wie eine Vermeidungsstrategie wirkt – die Vermeidung einer zu offenen, kritischen, die gesamte Gesellschaft betreffenden Diskussion. Der 2010/11 bereits weitestgehend vollzogene strategische Wandel wurde in Guttenbergs Begründung für das Ende des Zwangsdienstes nicht einmal sonderlich herausgehoben behandelt. Seitdem hat die Bundeswehr zwar eine Menge Einsätze, aber hat sie eigentlich auch einen Auftrag?

Ein Spiegel der Gesellschaft

Unter dem langfristigen Paradigmenwechsel haben offenbar auch innere Führung und demokratische Zuverlässigkeit der neuen Armee gelitten. Schon die ursprüngliche Idee, laut der die Bundeswehr durch die Wehrpflichtigen ein Spiegel der Gesellschaft sein sollte und mittels des massenhaften Durchlaufs Externer eine unterschwellige zivile Kontrolle der Zeit- und Berufssoldaten existierte, war durchaus strittig.

Die Vermutung, dass sich eine Parallelgesellschaft voller Korpsgeist und antidemokratischer Gesinnung leichter in der Freiwilligenarmee ausbreitet, ist aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die Skandale um rechtsradikale Netzwerke im Kommando Spezialkräfte (KSK) markieren dabei nur die berühmte Spitze des Eisbergs. Und einen der seltenen Momente von Sichtbarkeit des Militärs in der deutschen Öffentlichkeit neben der gelegentlichen Bundestagsdebatte über die Verlängerung konkreter Einsätze und dem freundlichen Jugendoffizier beim Schulbesuch.

Der Mangel an öffentlicher Verständigung über den generellen Auftrag der Bundeswehr, die Ansprüche an sie und ihre Integration in die Gesellschaft ist dabei eine gefährliche Verdrängungsleistung. Junge Menschen zu kasernieren und, egal mit welchen Euphemismen man das schönreden will, zum Töten auszubilden, bedarf ständiger transparenter Rechtfertigung und nachdrücklicher kritischer Überprüfung; unabhängig vom Bestehen einer Wehrpflicht.

Ihre Abschaffung war in diesem Lichte betrachtet keine Zäsur, sondern nur pragmatischer Ausdruck des bereits vollzogenen dramatischen Wandels. Ein verdruckster Mauerfall in Zeitlupe, der vor aller Augen stattfand, jedoch nie hinreichend aufgearbeitet wurde.

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