Adorno-Vorlesungen: Theologisierung von Rassismus

Um „Eugenische Phantasmen. Behinderung, Macht, Moral“ ging es diesmal an der Universität Frankfurt. Referiert hat Historikerin Dagmar Herzog.

Mahntafel mit eingravierten Kreuzen und Inschrift für die 13720 geistig behinderte und psychisch Kranken Menschen und 1031 Häftlinge aus Konzentrationslagern und zahlreiche jüdische Bürger die in Pirna Sonnenstein ermordet wurden

Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein: Mahntafel für die 13720 „Euthanasie“-Opfer, die hier ermordet wurden Foto: Daniel Schäfer/imago

Die diesjährigen Adorno-Vorlesungen hielt vom 23. bis 25. Juni die in New York lehrende Historikerin Dagmar Herzog. Sie referierte über „Eugenische Phantasmen. Behinderung, Macht, Moral“ – ein Thema, das in der deutschen Erinnerungskultur eine geringe Rolle spielt und in der Wissenschaft fast nur von Außenseitern und Quereinsteigern behandelt wurde.

Wichtig waren dabei die Arbeiten des Frankfurter Theologen und Journalisten Ernst Klee (1942–2005), der 1983 unter dem Titel „Euthanasie im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ das Standardwerk zur mörderischen Praxis der Nationalsozialisten und ihrer Komplizen unter Ärzten, Psychiatern und Juristen vorlegte. Der Dammbruch erfolgte 1920, lange vor Hitlers Herrschaft.

Damals veröffentlichten der Leipziger Juraprofessor und Reichsgerichtspräsident Karl Binding und der Freiburger Nervenklinikdirektor Alfred Hoche eine 62 Seiten starke Broschüre mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“.

Die Schrift lieferte die Argumente in der Debatte über unheilbar Kranke und geistig Behinderte, in der Diktion der beiden Autoren „Blödsinnige“, die von einer Kommission aus zwei Ärzten und einem Juristen zur Tötung freigegeben werden konnten. Das Kriterium der Arbeitsfähigkeit, d. h. „Brauchbarenauslese“, spielte im mörderischen, pimär ökonomisch, aber mit dem Begriff „Volksgesundheit“ auch rassistisch unterlegten Kalkül, dem rund 300.000 Menschen zum Opfer fielen, eine Schlüsselrolle.

Der Staat darf töten

Weil Binding die christliche Religion wegen ihrer Ablehnung des assistierten Suizids scharf angegriffen hatte, fühlten sich Theologen zu Antworten herausgefordert. Im Bemühen, Gegenargumente gegen Hoche und Binding zu finden, landeten die Kirchenmänner beim Opportunismus gegenüber den mörderischen Thesen, die ein Heidelberger Theologieprofessor in den Satz fasste: „Christen dürfen nicht töten, ein Staat aber schon.“

So wurde lange vor 1933 ein Paradigmenwechsel eingeleitet, aus dem sich die „abgrundtiefe Hilflosigkeit“ (D. Herzog) der Pfarrer und Anstaltsdirektoren bei der späteren Umsetzung des NS-Mordprogramms erklärt.

Im Protestantismus gedieh so eine anpassungswillige „Theo-Biopolitik“, die die Tötung Behinderter zwar ablehnte, aber im Namen eines „sexuellen Konservatismus“ oder aus rassistischem Wahn von „Erb- und Volksgesundheit“ für die Zwangssterilisierung Behinderter plädierte. Selbst die angesehene Bodelschwingh’sche Anstalt Bethel reihte sich mit einem „Sterilisationstag“ ein ins verbrecherische Tun.

Die „Theologisierung von Rassenlehre und Eugenik“ wurde zum Bestandteil des deutsch-protestantischen Christentums, das Eugenik mit Euthanasie verknüpfte. Nachwirkungen davon sind auch nach 1945 zu registrieren. So rechtfertigten Juristen den Mord an Kranken noch 1952 als „Volkshilfe, um das Volk zu veredeln“.

Behindertenpolitik in der DDR

Fritz Bauer scheiterte in Hessen mit dem Vorhaben, die Verantwortlichen für die 70.000 Opfer der mörderischen T4-Aktion vor Gericht zu bringen. 1980 lebten noch rund 88.000 Zwangssterilisierte, denen man Entschädigung und Anerkennung des erlittenen Unrechts verweigerte. Erst 1988 wurden die Urteile als NS-Unrecht anerkannt.

Die Behindertenpolitik in der DDR hatte zwar mit katastrophalen Missständen als Folge der Mangelwirtschaft zu kämpfen. An drei Beispielen demonstrierte Herzog jedoch, wie das kompromisslose Engagement Einzelner für Behinderte etwa mit dem Konzept der „Förderpflege“ Kliniken und Heime aus Verwahranstalten in humane Einrichtungen verwandelte.

Das beruhte auf der Überwindung des „alltäglichen Mörderdenkens“ (F. Fühmann), das sich im Horizont der religiös inspirierten Ideen von „Erlösung“ und „Gnadentod“ für Schwerstkranke bewegt.

Den genuinen Zusammenhang von „Pflegepolitik und Erinnerungspolitik“ machte Herzog subtil wie beeindruckend deutlich. Wo Erinnerungspolitik um religiös besetzte Metaphern wie „Gnadentod“, „Erlösung“, „Shoah“ oder „Holocaust“ zentriert ist, besteht die Gefahr, dass andere Opfer marginalisiert oder dem Vergessen überantwortet werden wie die Opfer der NS-Morde an Behinderten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.