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: Die Einschläge kommen näher

Sie haben sicherlich schon von japanischen Soldaten gehört, die während des Zweiten Weltkriegs auf einer einsamen Insel stationiert und dort „vergessen“ worden waren? Irgendwann in den 50er Jahren hatte sich jemand in Japan erschrocken an sie erinnert und sie zurückgeholt, die, die noch nicht wussten, dass der Krieg schon Jahre vorbei war.

Vor Kurzem kam mir der Gedanke, dass mir Ähnliches passieren könnte, und ich weiß nicht, ob ich diesen Gedanken beunruhigend finde. Oder ob ich es beunruhigend finden sollte, dass ich ihn nicht beunruhigend finde. Na ja. Die, die privilegiert genug waren, relativ unbehelligt von der Pandemie da draußen zu bleiben, versuchten sich zu Hause eine Hochburg der Bequemlichkeit zu erbauen und machten Bekanntschaft mit dem schmalen Grat zwischen Komfort und Sichaufgeben. Auch ich habe mich im letzten Jahr auf meiner einsamen Insel eingerichtet, die ich nun nicht mehr zu verlassen gedenke, auch wenn das ganze Berliner Party-Militär mich da herunterzerren würde.

Ich bin noch nicht fertig geboren in meinem pandemischen Kokon. Man will noch an einer Ära festhalten, in der man sich neu erfinden musste. Haben wir am Anfang nicht gehofft, dass diese Zeit eine des radikalen Umdenkens werden könnte, der radikalen Veränderung, bevor wir in Lethargie und im Troubleshooten versanken? Hat man die Potentiale genutzt, die Lehren schon zu Ende gedacht, die diese Zeit uns ermöglichte? Und nun soll es vorbei sein und wir fließen wieder in den vorpandemischen Alltag zurück, alles wie gehabt? LASST MIR DIE RUHE. ICH BIN NOCH NICHT FERTIG. Zerrt mich nicht nach draußen, ich will noch Winterschlaf halten, in meinem eigenen privilegierten Mief des Zu-Hause-vor-mich-hinVegetierens.

Vielleicht ging es den japanischen Soldaten ähnlich, sie hatten Krieg und Frieden noch nicht zu Ende durchdacht, sie brauchten noch ein paar Jahre Ruhe und kamen zu dem Schluss, der ganzen kriegsverliebten Menschheit lieber fernzubleiben.

Neben vielen Ängsten hier und Befindlichkeitsstörungen da, lag ein großer Erkenntnisgewinn in dem Mangel an FOMO, nur um jetzt von einem noch umwälzenderen FOMO (Angst, etwas zu verpassen) heimgesucht zu werden: Die Einschläge kommen näher, immer mehr Leute in meinem sozialen Umfeld – auch wenn das nicht sehr groß war – haben bereits die erste Impfung oder einen Impftermin und erweitern ihren Spielraum. Ich versuche das beflissentlich zu ignorieren. Vielleicht wie japanische Soldaten auf der einsamen Insel, die Funksprüche ignorierten, dass der Krieg vorbei ist.

Doch hin und wieder lockt mich der FOMO doch wie ein süßer Nektar. Vielleicht werde ich mir demnächst, wenn alles oder einiges wieder aufhat, die Zitty oder den Tip kaufen, eines dieser Formate wird es hoffentlich noch geben, ich habe es lange nicht mehr überprüft. Ich werde jeden Tag etwas von ihrem verführerischen Terminkalender unternehmen, alle Etablissements durchforsten, die es in meiner schönen Stadt noch gibt.

Im Schnelltestzentrum um die Ecke, eingerichtet in einer Bar, gibt es jetzt nach dem Test Whiskey Sour oben drauf. Diese Art Schnelltest kostet dann 6,50 Euro und die Leute stehen in Zweiergruppen oder alleine in der Straße mit Abstand, nippen an ihren Drinks und freuen sich. Ein kleiner Schritt zurück in den Ozean, eine Rückführung, in das besinnlich trunkene Miteinander, das uns noch zu überfordern scheint. Hier und da werden wir die Stille und das Alleinsein vermissen, wir werden uns dennoch bald wieder in die Fluten stürzen, schwimmen oder untergehen. Sarah Diehl