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: Da stimmt doch was nicht mit mir

Die letzte Kolumne, die ich hier schrieb, ist sieben Wochen alt. Wenn ich sie heute lese, kommt es mir vor, als hätte sich die Welt seitdem mehrfach gehäutet. Krass, wie wir uns andauernd neu justieren und anpassen müssen, zu welcher Flexibilität wir Menschen offenbar imstande sind. Obwohl wir Federn lassen. Apropos: Bitte unterschreiben Sie die Petition für die Zulassung von mehr Psychotherapieplätzen auf change.org.

Vor sieben Wochen war gerade das Shoppen mit Test erlaubt worden. Huuu! Heute gibt es alle zwei Meter ein lukratives Pop-up-Testzentrum, man kommt ja kaum noch durch das werbende Schildermeer. Das Testen jagt meinen Puls nicht mehr hoch, es passiert so nebenbei. Die Drastik lauert andernorts: „Am Mittwoch kehren wir in den Regelunterricht zurück“, schreibt der Schulleiter in seinem wöchentlichen „corona update“. Regelunterricht? Was war das noch? Die Erwachsenen im Haushalt sehen sich großäugig an. Die Kinder sind aus dem Haus, von 8 bis 16 Uhr? Wir werden zusammenbrechen. Vor Erleichterung. Weil ein geregelter Alltag eine herrliche Einfachheit haben wird, die wir nicht mehr gewohnt sind. Vor Stress, weil wir dann ja wieder richtig arbeiten sollen. Was war das noch? Achtstundentag? Wissen wir jetzt nicht, dass das Zusammensein mit den Kindern seine innigen, schönen Momente hat, die wir uns vorher als emanzipiert Schuftende kaum erlaubt haben?

Auch ansonsten komme ich aktuell nicht mehr hinterher. Theater draußen. Freiluftkino. Erste Open-Air-Konzerte. Museen und Ausstellungen. Essen mit Test draußen. Oder draußen sogar schon ohne Test? Das Postfach quillt über von enthusiasmierten Pressemitteilungen, überall legt sich die Kultur full force ins Zeug. Aber will ich das noch, brauch ich das noch? Hab ich nicht herausgefunden, dass ich es aushalte in der Immanenz des unplanbaren Augenblicks, mit Gärtnern und Spielstraße, mit Ehrenamt, Puzzle, weniger Arbeit und weniger Geld?

Ich schlucke. Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben nicht zurück. Da stimmt doch was nicht mit mir.

Mit denen im Görli unten stimmt hingegen alles. Sie trommeln wieder bis in die späten Nachtstunden, sie lachen und johlen. Ich habe rein theoretisch vollstes Verständnis. Fühle mich dabei aber selbst gehäutet, roh und nackt, so, als müsste mir ein neues Fell wachsen.

Vielleicht wächst es schon dort, wo mir heute der rechte Oberarm weh tut. Die Ärztin im Impfzentrum sagte es so: Es wird sich anfühlen, als hätte mir jemand mit voller Kraft auf den Arm geboxt. So ist es. Ich werde zurückgeboxt in die alte Normalität. Es ist so grandios wie unheimlich. Der kleine Aufkleber im Impfpass hat etwas Konkretes, das ich nicht begreife, nach all den Fernsehbildern. Da klebt wirklich Comirnaty. In meinem Pass. Was habe ich für ein Glück.

Ich las, viele Wahl­hel­fe­r*in­nen für die Super-Wahl im September sprängen wieder ab. Sie hatten sich offenbar nur gemeldet, um den Berechtigungsschrieb zur priorisierten Impfung einzusacken, und stornieren danach ihre Zusage. Die Ämter stehen vor einem Trittbrettfahrer-Problem. Auf mich dürfen sie zählen. Ich bin brav und will was für unsere Demokratie tun und dabei sein, wenn die Deutsche Wohnen enteignet und die nächste Frau ins Bundeskanzlerinnenamt gewählt wird. Ich nehme mir in diesem Jahr die Zeit dafür. Nein, ich weiß jetzt: Ich habe sie. Kirsten Riesselmann