„Brother's Keeper“ auf der Berlinale: Schneesturm und vereiste Straßen

Regisseur Ferit Karahan verhandelt in „Brother’s Keeper“ Bürokratie und Repression. Der Film ist eine Groteske, erzählt mit grimmiger Komik.

Ein etwa 12-jähriger Junge stützt einen anderen Jungen beim Gehen durch den Schnee.

Memo (Nurullah Alaca) und Yusuf (Samet Yıldız) im Berlinale-Film „Brother’s Keeper“ Foto: Diren Düzgün/Asteros Film

„Brother’s Keeper“, der Gewinner des Fipresci-Preises der Berlinale, führt in eine Welt in absolutem Kontrast zum Sommerfeeling des Publikumsfestivals, die trotz Kälteschock dennoch unbedingt den Besuch lohnt.

Der türkisch-kurdische Regisseur Ferit Karahan greift in diesem Film auf eigene Kindheitserfahrungen in einem staatlichen Internat im ostanatolischen Hinterland zurück, einem von zahlreichen Instituten, die den Kindern der bäuerlichen kurdischen Bevölkerung Bildungschancen eröffnen, allerdings unter türkisch-nationalistischem Anpassungsdruck, wie er den Hintergrund der Geschichte im Presseheft des Films erklärt.

Die Winterkälte um minus 35 Grad, ein aufkommender Schneesturm und vereiste Straßen bestimmen die Ereignisse in „Brother’s Keeper“ wie ein bösartiger Gegenspieler mit, offenbaren dabei jedoch dramatisch, was es mit dem harten Drill in der Männerwelt dieser Erziehungsanstalt auf sich hat.

Ferit Karahan fügt mit seinem Film über Verhältnisse in den 1990er Jahren dem Genre Internatsfilm eine eigenwillig düstere, mit grimmiger Komik unterlegte Note hinzu.

Brutaler Internatsalltag

In fahlen Winterfarben begleitet die Kamera den zwölfjährigen Yusuf und seinen besten Freund Memo, die im brutalen Alltag zwischen abendlicher Massendusche, Schlaf in Doppelstockbetten, Frühstück im Speisesaal, Gejohle im Klassenraum und abgelegenem Krankenzimmer 24 Stunden allein gelassen werden.

Die Aufsicht führenden Lehrer, selbst frustrierte, an beiläufige Stockschläge, Kopfnüsse und martialische Ansagen gewöhnte ehemalige Internatsschüler, überlassen das Regiment über die quirlige Herde den älteren Schülern und haben weder Zeit noch Aufmerksamkeit für die Not, die Yusuf umtreibt.

„Brother's Keeper“. 15. 6., 21.30 Uhr, Atelier Gardens Freiluftkino @BUFA

Als Memo im engen Waschraum mit einem stärkeren anderen Jungen in Streit um das Gießgefäß gerät, wird die kleine Gruppe in der Kabine zur Strafe dazu verdonnert, sich bis zum Ende des Rituals mit eiskaltem Wasser zu waschen. Memo, ein zartes, heimwehkrankes Kind, bittet den Freund darauf, im gleichen Bett mit ihm schlafen zu dürfen, was Yusuf ablehnt, weil Gerede darüber entstehen könnte.

Was in den folgenden Nachtstunden geschieht, wird sich am Ende als gut gemeinte, von Yusufs Mitgefühl getragene Verstrickung in Memos Schicksal erweisen. Elliptisch lückenhaft erzählt, lenkt der Film den Blick aus Yusufs Perspektive auf den nächsten Morgen.

Kurdistan existiert hier nicht

Aus Yusufs Perspektive, immer wieder auf den intensiven dunklen Blick des Kindes konzentriert, folgt man den Morgenritualen der fünften Klasse. Im Geografie-Unterricht geht es zum Beispiel um die Aufzählung der türkischen Regionen, und als ein Schüler das Internat in Kurdistan verortet, fährt ihm die Lehrerin über den Mund, weil es sich um Ostanatolien handele und Kurdistan nicht existiere.

Yusuf sucht indessen Hilfe für den kranken Freund, darf ihn schließlich in das ungeheizte Krankenzimmer bringen, wo zunächst heißes Wasser für die vereiste Metalltür aufgetan werden muss, Memo ein Aspirin verpasst bekommt und in Bewusstlosigkeit fällt. Es geht schief, was schiefgehen kann, als sich Yusuf durch den Schnee aufmacht, um die Lehrer um Hilfe zu bitten.

Wer immer zuvor die Aufsicht führte, findet sich am Krankenbett ein, nicht ohne auf dem spiegelglatt vereisten Steinboden auszurutschen. Was ist zu tun, wenn der Schulbus mit dem Auftrag, Käse für den Direktor zu kaufen, in der Stadt festsitzt, wenn das einzige verfügbare Auto nur Sommerreifen besitzt und die Ambulanz auf den Einsatz der überlasteten Schneepflüge warten muss?

„Brother’s Keeper“ ist alles andere als ein sentimentales Rührstück, eher eine scharfsinnige Groteske über Bürokratie, Mangelwirtschaft, ein System, das Repression, Konformität, Heimlichkeiten und Grausamkeiten fördert. Yusufs Blick in die Kamera, nachdem ausgerechnet er mit einem Strafritual gebrandmarkt wurde, sagt viel über die Haltung, mit der sich der Regisseur von diesem absurden Erziehungsprogramm emanzipierte.

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