Die These: Gegen die ‚neue Normalität‘

Das nahende Ende der Pandemie löst ein psychisches Unbehagen aus. Daran zeigt sich, dass die Rückkehr zum Gewohnten enttäuschend sein muss.

Zahlreiche Gäste sitzen in einem Restaurant im außenbereich und unterhalten sich

Nach Monaten in sozialer Distanz kehrt das „normale“ Leben langsam zurück Foto: Annette Riedel/dpa

Seit Tagen ist das Wetter super, und die Leute erobern sich die Stadt zurück. Cafés, Restaurants, Parks – überall sitzen sie in großen und kleinen Gruppen und genießen die Sonne. Die Museen und Theater haben wieder auf – culture is healing. Gefühlt ist alles wieder normal, und die Menschen genießen es.

Alle Menschen? Nein, ich nicht. Ich fühle mich ausgeschlossen von einem Alltag, dem ich skeptisch gegenüberstehe, an dem ich eigentlich gar nicht richtig teilhaben will.

Die Normalität kommt zurück. Und das ist absolut kein Grund zur Freude.

In den Parks machen viele wieder Sport, veranstalten kleine Partys – und ich liege einfach nur herum. In den Restaurants werden die Tische zu Gruppen zusammengestellt, und ich schiebe die nächste Tiefkühlpizza in den Ofen. Die Terminbuchungen zum Einkaufen sind häufig ein schlechter Scherz, und die Schlangen führen durch die halbe Stadt. Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen ich mir denke, dass ich gern Teil davon wäre, obwohl ich es nicht genießen würde. Ich fühle mich, als hätte mir die Pandemie den Spaß geklaut; und jetzt, wo ich ihn zurückhaben könnte, will ich nicht mehr.

Fomo und Cave-Syndrom

Ich leide an Fomo, der fear of missing out – der Angst, etwas zu verpassen. Wer darunter leidet, nimmt die Welt so wahr, als ob alle total viel erleben und unternehmen – nur das eigene Leben scheint langweilig und trist, man fühlt sich ausgeschlossen und ungenügend. Als Begriff wird Fomo häufig mit der ausufernden Nutzung von Social Media in Verbindung gesetzt. Auf Corona bezogen: Alles ist wieder normal, und überall herrscht die große Erleichterung, nur bei mir nicht. Die Menschen haben eine tolle Zeit, und ich bin nicht dabei. Mein Unbehagen ist einfach zu groß.

Dazu muss man wissen: Ich bin in eine neue Stadt gezogen. Während einer Pandemie ist das sozial gesehen ein suboptimales Unterfangen. Auf der anderen Seite ist es auch eine gute Ausrede: Wenn man eh nichts unternehmen darf, liegt es zumindest nicht an mir. Das ist jetzt hinfällig. Ich frage mich also, ob ich jetzt nicht einfach neidisch auf die anderen bin, weil meine engsten Freun­d*in­nen nicht hier sind. Neidisch, weil ich nicht mit ihnen im Restaurant sitzen, ins Theater gehen kann. Neidisch, weil sie sich weit weg und ohne mich treffen.

Aber je mehr ich mit anderen darüber rede, desto deutlicher wird mir: Ich bin damit nicht allein. Auch sie blicken mit einem Unbehagen, einem Unwohlsein auf die aktuelle Aufbruchstimmung. Die neuen alten Freiheiten müssen erst wieder erlernt werden. Andere erzählen mir, wie sie von Menschengruppen bis zur physischen Erschöpfung überfordert sind. Zum Beispiel davon, dass sie nach einem kurzen Shopping-Trip eigentlich einen Mittagsschlaf bräuchten. Gruppensituationen lösen eine grundsätzliche Anspannung aus, und wir sind die physische Anwesenheit vieler Menschen nicht mehr gewöhnt. Es entsteht ein reflexhafter Panikmodus.

Damit berühre ich eine weitere psychologische Folge der Pandemie, das sogenannten Cave-Syndrom. In der Isolation der eigenen Höhle („cave“) haben wir eine regelrechte Angst vor Menschenansammlungen entwickelt. Das ist auch alles völlig nachvollziehbar. Eineinhalb Jahre haben wir uns antrainiert, Versammlungen, egal welcher Größe, mit Vorsicht – oder besser noch: gar nicht – zu genießen. Freunde treffen? Kultur erleben? Spaß haben? Unverantwortlich oder zumindest verdächtig.

Dabei würde ich nicht sagen, dass Angst vor Corona mein momentanes ungutes Gefühl bestimmt. Ich bin zwar noch nicht immunisiert, aber bei den niedrigen Fallzahlen und den Fortschritten beim Impfen habe ich keine besonders große Angst vor einer Ansteckung. Ich finde es nicht mehr verantwortungslos, dass sich Menschen in Cafés treffen. Die momentane Skepsis ist nur vordergründig von pandemischer Risikoabwägung geprägt, sondern viel mehr vom Gefühl, etwas verpassen zu können.

Beim momentanen Gefühl, etwas zu verpassen, ist nicht nur der eigene Ausschluss psychologisch erzeugt, sondern die gesamte Situation. Man blickt mit einem fast schon melancholischen Gefühl auf etwas, das man gar nicht will. Ich will jetzt gerade einfach nicht drin in einer vollen Kneipe sitzen, aber ich würde es gern wollen. Wenn dieses Gefühl mit Neid zusammenhängt, dann indem man neidisch auf etwas ist, vor dem man selbst zurückschreckt.

Die vielen Möglichkeiten erzeugen auch einen absurden Druck. Diese Angst, etwas zu verpassen, was man so lange nicht tun konnte. Mit Lethargie steht man dem gefühlten Überangebot gegenüber, wie wenn man sich im Supermarkt zwischen zwanzig Waschmitteln entscheiden muss. Oder um es mit der Band „Wir sind Helden“ zu sagen: Wir müssen nur wollen.

In den 15 Monaten Dauerkrise und Verzicht hat sich die Erwartung einer großen Ekstase aufgebaut: „Wenn das erst mal wieder erlaubt ist, dann …“. Als das erste frisch gezapfte Bier dann auf dem Tisch stand, war es nicht gerade eine Geschmacksexplosion. Als man „endlich“ wieder in eine Kneipe gehen konnte – bin ich auf der Türschwelle umgedreht. Die Sehnsucht nach Normalität war riesig geworden, und jetzt stellt man fest, dass diese Normalität einfach nur – normal ist. Es ist doch eine riesige Enttäuschung, dass es jetzt wieder so wie früher ist.

Neue Normalität? Alte Ausbeutung!

Auch vom individuellen Alltag abgesehen, befinden wir uns im Umbruch zum new normal, der neuen Normalität. Die ist aber keineswegs eine bessere Normalität, und vieles hat durch die Pandemie noch mal eine neue Dimension gewonnen. Wir haben gelernt, wie entspannt es ist, Essen einfach liefern zu lassen. Dabei sind die Arbeitsbedingungen furchtbar, und so streiken beispielsweise gerade Berliner Fah­re­r*in­nen beim Start-up-Lieferdienst Gorillas, weil ihr Kollege wegen einer minimalen Verspätung entlassen wurde. Oder es wurde endlich öffentlich diskutiert, wie miserabel die Arbeits- und Lebensbedingungen migrantischer Sai­son­ar­bei­te­r*in­nen sind, aber auch nur, weil sie plötzlich als Gefahr für die Gesundheit der hier dauerhaft Lebenden gesehen wurden. Und niemand kann mehr ignorieren, dass unsere Arbeitsgesellschaft zum Großteil aus Bullshit-Jobs, faktischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, besteht, auf die man ohne große Verluste verzichten kann.

Die Krise hat gezeigt, dass unsere Normalität kein Sehnsuchtsort ist. Für viele bedeutet Normalität Ausbeutung, Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt und Elend. In dieser Hinsicht war dann auch das letzte Jahr gezwungenermaßen relativ normal. Gerade prekäre Arbeit musste weiter verrichtet werden, nur mit Gesundheitsrisiko und unter besonderem Druck. Die Wahrnehmung einer grundlegenden Abweichung von der Normalität hing sicherlich auch mit der Möglichkeit des Homeoffice zusammen. Damit ist die Frage der Rückkehr zur Normalität auch ein Stück weit ein Luxusproblem.

Erst durch die coronabedingte Abweichung und die Rückkehr zu ihr wird deutlich, wie beschissen diese Normalität ist. Wir hadern mit der Diskrepanz zwischen der Hoffnung, die mit ihr verbunden wird, und der Trostlosigkeit, die sie tatsächlich bedeutet. Wer will sich schon durch volle Einkaufshäuser und Innenstädte quetschen? Wer will schon einen Alltag haben, den man nur mit zwanghaften Ersatzhandlungen wie Sport oder Feiern erträgt?

Dass ich mit meinem Unbehagen nicht allein bin, zeigt mir, dass das ein nachvollziehbarer, widersprüchlicher Umgang mit dem Ende einer langen Krise ist. Und dass die Normalität, zu der wir jetzt zurückkommen, einfach eine Enttäuschung ist. Unsere Psyche reibt sich daran, dass die Rückgewinnung der Freizeit nicht die gesamtgesellschaftlichen Probleme überdecken kann. Die psychische Krise, die auf die Pandemie folgt, ist Symptom einer kaputten Gesellschaft. The new normal sucks.

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