Fotograf Andreas Gehrke über sein Berlin: „Kein Bildband für Touristen“

In seinem Bildband „Berlin“ porträtiert der Fotograf Andreas Gehrke die Umformung der sich verdichtenden Stadt – und deren verschwindende Leere.

„Menschen würden ablenken von dem, was ich zeigen will“: der Berliner Fotograf Andreas Gehrke Foto: Wolfgang Borrs

taz: Herr Gehrke, hassen Sie Ihre Heimatstadt Berlin?

Andreas Gehrke: Ich? Nein, auf gar keinen Fall.

Warum haben Sie die Stadt dann so hässlich fotografiert?

Der Gebrauchsfotograf Andreas Gehrke wird 1975 in Ostberlin geboren. Mit 12 Jahren beginnt er als Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Fotografie“ im Pionierpalast Berlin zu fotografieren. Unter seinem Pseudonym Noshe fotografiert er seit 1999 Architektur von außen und innen, aber auch Porträts oder Objekte für Auftraggeber wie Wallpaper oder AD, Verlage wie Distanz oder Hatje Cantz.

Der Künstler Für seine künstlerische Fotografie benutzt Gehrke seinen bürgerlichen Namen und fotografiert vor allem Stadträume, Gebäude­porträts und Landschaften. Für sein Buch „Brandenburg“ fängt er „die Seele einer Landschaft“ (Zeit Online) ein. 2017 gewinnt Gehrke für seine Serie „Arrival“, eine Dokumentation provisorischer Flüchtlingsunterkünfte in Berlin, den europäischen Fotografiepreis Architekturbild. In seinem eben erschienenen Buch „Berlin“ porträtiert er in 102 Fotografien seine Heimatstadt (Drittel Books, 55 Euro).

Der Verleger 2013 gründet Gehrke seinen eigenen Fotobuch-Verlag Drittel Books, um als Erstes eine Trilogie mit seinen Foto-Essays über das alte Spiegel-Haus in Hamburg, das ehemalige Quelle-Versandhaus in Nürnberg und den IBM-Campus in Stuttgart herauszubringen. Seitdem hat er mehrere Bücher mit eigenen Fotografien herausgebracht, zuletzt „Berlin“, aber auch einen Sammelband über die „Topographie des Terrors“ und Bücher von Kollegen wie Sara-Lena Maierhofer, Michael Gessner, Raul Walch oder Martin Eberle mit Fotos aus der legendären „galerie berlintokyo“. (taz)

Mit diesem Vorwurf werde ich gelegentlich konfrontiert. Der kommt meist von Menschen, die mit dieser Art von Fotografie nicht vertraut sind. Aber mein Buch ist ja kein Bildband für Touristen, sondern ein Porträt dieser Stadt. Ein Blickwinkel auf die Stadt, von denen es viele verschiedene gibt. Dafür habe ich nicht bewusst die vermeintlich hässlichen Seiten Berlins ausgewählt, sondern das fotografiert, was mich interessiert. Und das sind halt eher gewisse urbane Zwischenräume, die für mich den Charakter einer Stadt ausmachen. Das Berlin in meinem Buch ist das Berlin, das ich sehe. Nur weil darauf „Berlin“ steht, hat mein Buch nicht den Anspruch, ein allgemein gültiges Porträt der Stadt zu sein.

Muss man gerade das an Berlin lieben, diese Hässlichkeit?

Für mich sind diese Seiten der Stadt nicht hässlich, sonst würde ich so einen Aufwand gar nicht betreiben. Ich fürchte, wenn ich Paris oder New York fotografiere, wären diese Städte für manch einen Betrachter auch unattraktiver als erwartet. Berlin ist doch vor allem eine Stadt voller Widersprüche, und die zeige ich in meinen Bildern.

Immerhin ist einmal im Hintergrund der Fernsehturm zu sehen, auch das Tempelhofer Feld …

Das Tempelhofer Feld ist ein schönes Beispiel. Das ist eine Ikone der jüngeren Stadtgeschichte und es ist sehr beliebt in der Bevölkerung, aber eigentlich ist es ein totaler Unort. Vollkommen undefiniert – und gerade deshalb total schön. Solche Orte, solche Leerstellen, die Nutzungsfreiheiten versprechen, sind für Städte total wichtig, gerade weil sie immer weniger werden. Und das, was für andere Unorte sind, das sind für uns Fotografen ja gerade die spannenden Orte.

Ist Berlin eine Stadt der Leerstellen und Unorte – jedenfalls mehr als andere Städte?

Städte wie London und Paris sind natürlich viel verdichteter, das liegt an ihrer Geschichte. Ich bin kein Architekturhistoriker, ich kann und will Geschichte in meinen Fotos gar nicht nacherzählen. Aber wenn man wie ich in Berlin aufgewachsen ist, dann ist man mit dem Gegenteil von Verdichtung aufgewachsen, nämlich mit viel Leere und Raum. Diese Leere in der Stadt hat mich schon immer fasziniert, ich hab mich immer viel herumgetrieben, schon als Jugendlicher. Und wenn ich heute fotografiere, dann habe ich oft eine Komposition im Auge, für die ich eher Platz und Raum brauche. Wenn man das biografisch interpretieren will: Vielleicht vermisse ich unterbewusst diese Leere, suche sie deshalb im Stadtbild und versuche sie festzuhalten in meinen Bildern.

Sie versuchen zu bewahren, was verschwindet?

Ja, einerseits schon, weil diese Übergangs- und Zwischenräume weniger werden. Aber das gehört nun mal zu Entwicklung, zu Veränderung, und das Thema meines Buches ist es nicht, diesen Leerstellen nachzutrauern. Jedenfalls nicht bewusst. Aber bestimmte Charakteristika, bestimmte architektonische Strukturen, unrenovierte Oberflächen, die für mich Berlin ausmachen, die werden immer seltener. Wenn auf einer Hauswand aus den dreißiger Jahren, auf der vielleicht noch Einschusslöcher zu sehen waren, erst einmal Wärmedämmung und hellblaue Farbe darauf ist, dann ist es nicht mehr Berlin – jedenfalls für mich nicht.

Ihre Bilder bilden nicht nur Leerstellen ab, sie sind selber auch leer. Menschen gibt es auf ihnen gar nicht.

Ja, das ist eigentlich dasselbe Thema. Menschen würden ablenken von dem, was ich zeigen will, denn sie rücken automatisch ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Welche Klamotten haben sie an? Welche Haltung nehmen sie ein? Sind sie einzeln oder in Gruppen? Stattdessen geht es mir ja darum, dass man sich als Betrachter in Bezug zur Stadtlandschaft sieht, dass man sich selbst in den Stadtraum setzt. Man versteht die Struktur eines Bildes und eines Ortes viel besser, wenn nicht gerade jemand durchs Bild läuft. Zusätzlich gibt es noch einen ganz einfachen technischen Grund: Bei der Großbildfotografie, die ich benutze, hat man ja nach Licht schon mal Belichtungszeiten von ein, zwei Sekunden – und verhuschte Geistermenschen will man nun wirklich nicht haben, wenn es um die Architektur der Stadt gehen soll.

Uthmannstraße, Berlin-Neukölln. Aus Andreas Gehrke, „Berlin“, Drittel Books 2021

Wie haben Sie das gemacht, dass die Ansichten so leer waren? Mussten Sie Straßen absperren?

Nein, man wartet. Oder fotografiert sonntags. Geduld muss man haben. Aber meistens suche ich mir eh Ecken aus, an denen nicht so viel los ist. Aber selbst an belebten Orten gibt es immer wieder Momente, an denen weniger los ist, das muss nicht mal ganz früh oder ganz spät sein. Zugegeben: Um den ­Hermannplatz zu fotografieren, bin ich um 4 Uhr morgens aufgestanden, um um 4.30 Uhr zu fotografieren – und selbst dann kommen da noch ein paar Leute auf dem Weg in den Club vorbei oder ein Taxi fährt zum Flughafen.

Sie haben sechs Jahre lang Berlin fotografiert. Wie deutlich hat sich die Stadt verändert in dieser Zeit?

Sie verändert sich, und das ist ja auch gut. Anfang der Neunziger war es schon auch noch sehr provinziell hier. Und manchmal wundert man sich schon, warum sie sich jetzt erst so ändert – und warum sich so viele Ecken so lange gehalten haben. Aber wenn man den Bereich zwischen Ostbahnhof und Warschauer Brücke betrachtet, was für eine Art von Konzernarchitektur sich da breitmacht – das ist ein neu geschaffener Unort, der mich auch interessiert und auch Teil einer neuen Serie ist, an dem ich mich aber fotografisch anders abarbeite.

Sie sind Urberliner, sind hier geboren und aufgewachsen. Ist das eher hinderlich, um eine Stadt zu porträtieren, oder gerade hilfreich?

Gute Frage, die mich auch schon länger beschäftigt. Als Besucher bringt man erst einmal ein großes Interesse mit, um eine Stadt zu erkunden. Andererseits hat man als Fotograf einen geschulten Blick, den man überall anwenden kann, ob in einer fremden oder einer vertrauten Stadt. Aber ich muss zugeben: Berlin war mir so vertraut, dass selbst, als ich nach fünf Jahren Hamburg wieder zurückkam, mich die Stadt als Stadtbild nicht so interessiert hätte, dass ich daraus eine fotografische Arbeit hätte machen wollen. Im Nachhinein ärgert mich das auch, weil es spannend gewesen wäre, schon in den neunziger und nuller Jahren die Stadt konzentriert zu fotografieren.

Warum kam das Interesse wieder?

Durch meine Arbeit über Brandenburg. Zuerst habe ich mich reif gefühlt, mich mit meinem Blick einer Landschaft zu nähern, die mir als Berliner ja auch vertraut ist. Und nach drei, vier Jahren Arbeit an dieser Serie wusste ich, dass ich dasselbe unbedingt auch mit Berlin machen musste. Auch weil ich dann gemerkt habe, dass diese undefinierten Stadträume immer mehr verschwinden. Die Stadt ist dabei, sich umzuformen. Ich sage ausdrücklich nicht: sich zu verändern, weil das immer negativ klingt. Denn Berlin ist nun mal, wie in dem berühmten Satz von Karl Scheffler, „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“.

Mittlerweile haben allerdings manche das Gefühl, dass das ewige Werden nun gestoppt ist und Berlin droht zu erstarren und schließlich doch zu sein – vor allem langweilig.

Nein, es wird sich immer was tun. Berlin ist groß genug. Nur leider ist die Architektur, die heute gebaut wird, ein Einheitsbrei – das gilt allerdings weltweit. Was heute in New York gebaut wird, hat genauso wenig Charakter wie die Neubauten um den Nordbahnhof herum. Es wird wenig gewagt. Auch der Potsdamer Platz war eine verpasste Chance.

„Im Sommer gibt es zu viele Blätter und zu viel Grün, das die Häuser verdeckt und von der ­Architektur ablenkt“

Ist Ihre Fotografie melancholisch?

Ich hoffe nicht. Ernsthaft ja, aber hoffentlich nicht melancholisch. Das mag so wirken, weil vieles im Herbst und im Winter aufgenommen wurde. Aber auch das hat vor allem bildkompositorische Gründe: Im Sommer gibt es zu viele Blätter und zu viel Grün, das die Häuser verdeckt und von der ­Architektur ablenkt. Aber ich kann mir vorstellen, dass manche Betrachter das so empfinden, vor allem die, die diese Form von Fotografie nicht kennen. Wir werden von den Medien überschwemmt mit einer unheimlich bunten, lebendigen, fast überfordernden und für mich unwirklichen Bildsprache. Wenn ich einen gewöhnlichen Bildband von Berlin ansehe, dann sehe ich nicht eine Stadt, sondern explodierende Bonbon-Fotografie.

Umgekehrt werden Ihre Fotos kritisiert.

Ja, das kommt schon vor, dass jemand fragt: Wo ist denn der blaue Himmel? Einige Bilder meiner Brandenburg-Serie sind auf Zeit Online erschienen. Ich hab ganz schnell aufgehört, mir die Kommentare durchzulesen, das war mir zu unterirdisch.

Sie machen uns unser schönes Brandenburg kaputt?

Ja, das war ungefähr der Tenor. Nicht alle, aber viele brauchen grünen Rasen und einen blauen See. Dabei war es eine riesige Herausforderung für mich, aus dem brandenburgischen Klischee herauszukommen. Und sich auf der anderen Seite nicht völlig auf die post­sozialistische Tristesse zu stürzen.

Unter dem Namen Noshe sind Sie auch ein erfolgreicher Auftragsfotograf. Wie kommen die Auftraggeber mit Ihrer Bildsprache zurecht?

Offensichtlich ganz gut, sonst wäre ich ja nicht erfolgreich, wie Sie sagen. Es gibt immer einen Zwischenweg, den man gemeinsam finden kann. Der größte Unterschied ist: Wenn ich einen Auftrag habe, muss ich das Gebäude fotografieren – und muss mitdenken, wie der Kunde das gerne hätte. Wenn ich als Künstler für mich fotografiere und die Straßenecke nichts hergibt, gehe ich einfach zur nächsten. Außerdem muss man ja sagen, dass ich nicht der Einzige bin, der so fotografiert. Da haben andere Vorarbeit geleistet, und es kommen auch genug nach. Diese Bildsprache ist vielleicht kein Mainstream, aber sie ist verbreitet.

Sie fotografieren mit einer schweren Großformatkamera – warum?

So schwer ist die gar nicht, vier, fünf Kilo, eine Stunde kann ich schon damit rumlaufen.

Dazu kommen dann noch das Stativ und die Kassetten mit den Filmen.

Ja, stimmt schon, es ist nicht wahnsinnig bequem. Man schafft auch nur einen Bruchteil der Bilder, die man digital schaffen würde.

Und teuer sind diese Kassetten ja auch. Was kostet eine Aufnahme?

Ungefähr zehn Euro mit Entwicklung. Da darf man nicht drüber nachdenken, während man fotografiert. Als Hobby wäre es zu teuer.

Warum tut man sich das an?

Man ist mit der Großbildkamera extrem langsam, aber auch extrem konzentriert. Man selektiert schon im Prozess des Fotografierens, trifft eine Vorauswahl, die man später nicht mehr im Editing machen muss. Das hilft dem Ergebnis. Es ist auch einfach die Art der Fotografie, mit der ich am besten Landschaft und Stadtraum abbilden kann. Ich liebe vor allem die einzigartige Balance zwischen Schärfe und Weichheit.

Sehen diese analog fotografierten Bilder wirklich anders aus als digitale? Und kann ich als Laie den Unterschied erkennen oder können den nur Profis sehen?

Das würde mich auch interessieren. Ich gebe zu, dass bei der Größe der Bilder in einem Buch kaum ein Unterschied zu sehen ist – weil die digitalen Kameras sehr gut geworden sind. Sie sind, finde ich, schon fast zu gut geworden. Nach 30 Jahren Entwicklung sind die Objektive und Bildsensoren so perfekt, dass das Ergebnis zu scharf, zu crisp ist. Und den Unterschied sieht man dann im großen Print. Natur digital so aufzunehmen, dass sie auf einem großen Fine-Art-Print so aussieht, wie ich es mag, das habe ich noch nicht geschafft. Es gibt eine gewisse digitale Schärfe, die unnatürlich ist. Ich stand schon oft vor Fotografien in einer Galerie und dachte: Super Bild, aber leider etwas zu digital.

Das erinnert mich an die Diskussion, als die CD aufkam und die HiFi-Freaks meinten, Vinyl klingt einfach besser.

Ja, das ist vielleicht ähnlich. Und vielleicht geht es auch hier vor allem um ein Gefühl. Und um ehrlich zu sein, bin ich es auch ein wenig leid, das Stativ immer mit herumschleppen zu müssen, und experimentiere deshalb seit ein, zwei Jahren auch für meine eigenen Bilder im Stadtraum mit der digitalen Fotografie. Aber in diesem Buch ist alles noch analog.

„Bei einem Porträt geht es mir immer darum, das Gegenüber zu respektieren. Das, was man fotografiert, ist wichtiger als der eigene Blick darauf. Da gibt es keinen Unterschied zwischen einem Gebäude und einem Menschen“

Was fasziniert Sie generell an der Architekturfotografie?

Ich bin, glaube ich, eher an der Stadt als an der Architektur interessiert. Aber wenn es um ein einzelnes Gebäude geht, dann versuche ich, es als Skulptur zu sehen. Ich versuche, das Gebäude zu porträtieren – genauso wie Menschen, die ich als Auftragsfotograf porträtiere. Bei einem Porträt geht es mir immer darum, das Gegenüber zu respektieren. Das, was man fotografiert, ist wichtiger als der eigene Blick darauf. Da gibt es keinen Unterschied zwischen einem Gebäude und einem Menschen.

Ein großer Unterschied: So ein Haus kann nicht weglaufen. Als Laie fragt man sich: Wo ist der Reiz an Architekturfotografie?

Ein Haus rennt vielleicht nicht weg, aber du kannst es auch nicht vor einen anderen Hintergrund setzen oder verschieben. Du kannst nicht sagen: Lächel mal. Du kannst die drei roten Transporter nicht abschleppen lassen, die davor stehen, aber wenn die mit im Bild sind, guckt man nur auf die drei roten Autos und nicht auf das Haus. Und da sind wir noch nicht mal bei der Technik: Wenn ich mit einer normalen Kamera ein Haus fotografiere …

… dann klappen die Fluchtlinien in der Höhe zusammen.

Genau, das kennt jeder, der im Urlaub eine Kirche fotografiert hat. Aber das ist noch das Geringste. Es gibt also die große Herausforderung und den Reiz, wie immer bei der Fotografie: etwas so zu fotografieren, wie man es sieht – und nicht, wie es tatsächlich da herumsteht.

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