Bidens Reise nach Europa: Am kürzeren Hebel

Die Europäer sind Juniorpartner im transatlantischen Bündnis. Bidens Amtszeit ist eine Chance für Europa, die strategische Autonomie zu stärken.

Joe Biden winkt

US Präsident Joe Biden bei seiner Ankunft in Cornwall am Mittwoch Foto: Phil Noble/reuters

Kein Zweifel: der Machtwechsel von Donald Trump zu Joseph Biden hat das Verhältnis zwischen den USA und den EU-Staaten deutlich entspannt. Die wiederholt gestellte Frage, ob die Nato eine zweite Präsidentschaft Trumps wohl überstanden hätte, muss darum offen bleiben – auch, weil in den USA der Konflikt zwischen denen, die der Parole „America first“ anhängen, und jenen, die ihre Verbündeten als einen unverzichtbaren Verstärker der amerikanischen Macht ansehen und deshalb einen freundlichen Umgangston mit ihnen pflegen, nicht endgültig entschieden ist.

Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass ein Republikaner Trump’scher Prägung die nächste US-Präsidentschaftswahl gewinnt. An der Grundkonstellation im amerikanisch-europäischen Verhältnis hat sich durch die Wahl Bidens ohnehin nichts geändert: Über die Qualität der Beziehungen wird wesentlich in Washington und nicht in Brüssel, Paris oder Berlin entschieden. Dabei spielt die „Chemie“ zwischen den Politikern auf beiden Seiten sicherlich eine gewisse Rolle.

Angesichts der zentralen Relevanz geopolitischer Festlegungen sollte man sie aber auch nicht überschätzen. Gegenseitiges Vertrauen kann viel erleichtern; interessenbasierte Ausgangsvoraussetzungen verändern kann es nicht. Aus US-Sicht betrachtet lief die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs auf ein Scheitern des Isolationismus als Direktive der amerikanischen Politik hinaus.

Die sicherheitspolitische Doktrin der USA nach 1945 sah in der Konsequenz die Kontrolle der jeweiligen Gegenküsten vor: die Europas vom nördlichen Norwegen bis Gibraltar und unter Einschluss des Mittelmeers sowie die Ostasiens nach dem Sieg Maos wesentlich über die vorgelagerten Inseln von Japan über Taiwan und die Philippinen bis nach Indonesien und Australien mit einigen Festlandsankern, wie Korea und (bis in die der 1970er Jahre) Vietnam – notfalls auch unter Einsatz von Mitteln, die mit einem demokratischen Selbstverständnis nicht zu vereinbaren waren.

Das amerikanische Interesse an Westeuropa war eine verlässliche Garantie der US-Sicherheitszusagen, die nuklearen Schutzschirme eingeschlossen. Das wurde noch flankiert durch die Abhängigkeit einer US-dominierten Weltwirtschaft von Erdöllieferungen aus dem Nahen Osten, dessen politisch-militärische Kontrolle ohne die westeuropäische „Rückendeckung“ nicht möglich war.

Der Blick der USA richtet sich nach Westen

Das hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend verändert: erstens, weil die USA nicht mehr Russland, sondern China als den größten Herausforderer ihrer globalen Position ansehen, was sich unter anderem in ihrer überaus zurückhaltenden Reaktion auf die russische Annexion der Krim und den hybriden Krieg zeigt, den Putin in der Ostukraine am Schwelen hält.

Zweitens, weil die USA durch das Fracking-Verfahren zu einem Exporteur von Erdöl und Erdgas geworden sind, womit der Nahe Osten für sie deutlich an Bedeutung verloren hat. Das hat sich in ihrer Reaktion auf den syrischen Bürgerkrieg gezeigt: Es ging ihnen wesentlich um die Zerschlagung des IS; dass sie damit Baschar al-Assad und Wladimir Putin zum Sieg verhalfen, haben sie dabei in Kauf genommen.

Und schließlich hat, drittens, mit Obamas geostrategischer Hinwendung zum „Asian pivot“ der Nordatlantik als Verbindungsraum zwischen den USA und Europa erheblich an Bedeutung verloren. Der US-Blick ist nicht mehr nach Osten, sondern nach Westen gerichtet.

Dagegen steht die unter der Biden-Administration wieder in den Vordergrund gerückte Vorstellung, dass die globale Machtstellung der USA und ihre Position in der Weltwirtschaft von zuverlässigen Verbündeten abhängt, und das ist ein Argument, das für die Europäer spricht. Aber es ist auch klar, dass mit den veränderten geopolitischen Konstellationen das Adjektiv „zuverlässig“ erheblich an Gewicht gewonnen hat:

Was die Europäer für die USA wert sind, hängt von ihrer Zuverlässigkeit ab. Die Zuverlässigkeit der USA gegenüber den Europäern hat hingegen geringeres Gewicht, auch wenn das unter Biden wieder anders kommuniziert wird als unter Trump. Es ist eine strukturell asymmetrische Beziehung, die Europa mit den USA verbindet. Die Europäer sitzen am kürzeren Hebel, wenn sie denn überhaupt einen Hebel haben.

Das ist auch der Grund, warum die Vorstellung falsch ist, mit der Abwahl von Trump sei alles wieder so wie früher. Das ist es keineswegs, und das wiederum hat Folgen für eine europäische, auch eine deutsche Sicherheitspolitik. Die geopolitischen (und geoökonomischen) Veränderungen haben die europäische Position geschwächt.

Biden ist für Europäer ein Zugewinn, keine Rettung

Daraus lassen sich zwei Konsequenzen ziehen: die eine läuft auf eine erhebliche Nachgiebigkeit gegenüber amerikanischen Erwartungen und Forderungen hinaus, was heißt, die Rolle des Juniorpartners im Bündnis, der die Europäer nun einmal sind, wird als eine der Folgebereitschaft verstanden. Die andere Konsequenz lautet, dass die Europäer die Amtszeit von Biden als Chance nutzen müssen, um an ihrer strategischen Autonomie zu arbeiten und die sicherheitspolitischen Abhängigkeiten zu verringern.

Das wird auf eine verstärkte Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland unter Einbezug von Italien und Spanien hinauslaufen. Ob Polen dabei als weitere Macht, sozusagen als Vertreter Mittelosteuropas, ins Spiel kommt, wird von der Politik Warschaus abhängen, letzten Endes von der Frage, ob die Polen wesentlich auf die amerikanische oder auf die europäische Karte setzen.

Politisch klug wäre es für die Europäer sicherlich, die beiden Konsequenzen, eine gewisse Folgebereitschaft und Entwicklung strategischer Autonomie, nicht als sich ausschließende Alternativen zu begreifen, sondern zweigleisig zu fahren, um so perspektivisch die eigenen politischen Optionen zu vergrößern. Das aber heißt: Biden ist für die Europäer nicht die Rettung, sondern ein Zeitgewinn, der, wenn die Europäer ihn nutzen, beiden zugutekommen kann: ihnen selbst, aber auch den USA.

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