Hamburger Kunstspaziergang „The Gate“: Stadt mit offenen Armen

Der Kunstspaziergang „The Gate“ führt zu Kunstinstallationen in der Hamburger Hafencity. Die einzelnen Arbeiten bieten weit mehr als bloße Dekoration.

Eine Tafel mit Formen aus Messing auf dem Dar-es-­Salaam-Platz in Hamburg.

Überall Spuren des Kolonialen: Die Arbeit „Bedform“ auf dem Dar-es-­Salaam-Platz Foto: Kapwani Kiwanga

HAMBURG taz | Die Kasematten hinter den Hamburger Deichtorhallen werden gerne mal übersehen: Architektonisch nicht uninteressante Gewölbe sind es, die sich allerdings fast ausschließlich als Lagerräume nutzen lassen – alle paar Minuten donnert ein Zug über die Köpfe und verunmöglicht jede Konzentration.

Für laute Aktionen, für Underground waren die Räume aber immer gut. „Der Ort wurde immer wieder aktiviert, aber hauptsächlich durch Subkultur“, erzählt Svenja Björg Wassill. „Vor Jahren war ich hier einmal auf einem illegalen Rave.“ Wassill hat selbst in einer der Hallen ihre Rauminstallation „Shapeshifters“ verwirklicht, als östlichen Eingang in das soeben eröffnete Kunstprojekt „The Gate“ – und weiter weg vom Underground als die Hafencity ist wenig vorstellbar. Wassills Installation ist also tatsächlich ein Gate, ein Tor, das die Neubauarchitektur des jungen Stadtteils mit den alten Gemäuern verbindet.

„Shapeshifters“ besteht aus zwei Tonskulpturen: zwei beinahe naturalistisch gestaltete Hasen, die sich misstrauisch gegenüber hocken. Parallel dazu ist dunkles Dröhnen zu hören: die ins Unendliche geloopte Aufnahme eines über den Raum rollenden Zuges, das nur unterbrochen wird, wenn sich ein echter Zug ankündigt.

Eine auf den ersten Blick einfach wirkende Arbeit: Den Nippes der lackierten Häschen kontrastiert die klare örtliche Verbundenheit. Und dann liegt hinter diesem Nippes eine dunkle, zweite Ebene, einerseits durch das unablässige Rollen und Dröhnen. Andererseits sind die Hasen selbst auch keine niedlichen Mümmelmänner, sondern minimal ins Monströse verzerrt. Die Kasematte wird zum beunruhigenden Ort, der irgendwann nur noch aus Sound besteht. „Mit diesem Ort bot sich die Gelegenheit, über den Klang des Raumes nachzudenken“, sagt Wassill, gerade, da rollt wieder ein Zug heran: Drone Doom.

Spaziergang und App

„Alle Projekte sind spezifisch für die jeweiligen Orte entstanden.“ So beschreibt Ellen Blumenstein, seit 2017 Kuratorin für die Hafencity, „The Gate“. Was sind das für Orte? Auf der einen Seite ist die Aktion ein Kunstspaziergang durch das Neubauquartier und angrenzende Gebiete. 16 Stationen werden bespielt von Künst­le­r:in­nen wie Omer Fast, Marc Bijl und Franziska Nast, unter dem Motto, das sprichwörtliche Tor zur Welt abzubilden, für das Hamburg sich traditionell hält. Auf der anderen Seite ist „The Gate“ ein diskursiver Raum, eine App, angefüllt mit Podcasts, literarischen Formen, historischen Features – davon derart viel, dass man ziemlich schnell den Überblick verlieren kann.

Relativ leicht zu fassen bekommt man den Spaziergang, weil es hierfür Vorbilder gibt. Die bis in den September reichende Präsentation ist die mit Abstand größte Kunstaktion, seit Blumenstein die Position der Hafencity-Kuratorin übernahm; eine hochangesehene Expertin, die zuvor an den Berliner Kunst Werken – Institute for Contemporary Art arbeitete und nun in Hamburg die Investorenarchitektur mit Kunst aufwerten soll.

Freilich, schon in ihren ersten Projekten, der Skulptur „Public Face“ von Julius von Bismarck, Benjamin Maus und Richrad Wilhelmer oder der Tiefgarageninstallation „Backdrop“ von Gerrit Frohne Brinkmann, deutete Blumenberg an, dass ihr reine Stadtraummöblierung keinesfalls reicht. „The Gate“ ist jetzt ein richtiger Aufschlag – Kunst im öffentlichen Raum, die nicht dekoriert.

Zum Beispiel „Die Verhüllung“: Die US-amerikanische Künstlerin Joiri Minaya kleidet hier zwei historische Statuen von Christoph Kolumbus und Vasco da Gama auf der Kornhausbrücke in mit indigenen Mustern bedruckte Stoffe; eine kolonialismuskritische Aktion, die schon während der Vorbereitungen Widerspruch provozierte: Insgesamt dreimal hätten An­woh­ne­r:in­nen die Polizei gerufen, weil hier geschichtliche Zeugnisse geschändet würden, erzählt Blumenstein, und ihr Lachen an dieser Stelle hat einen bitteren Unterton. Einverstanden mit dem durchaus auch politischen Kunstbegriff Blumensteins sind also nicht alle in der Hafencity – deren zentraler Platz dieser Tage gerade offiziell benannt worden ist nach dem gelinde gesagt ambivalenten Amerigo Vespucci.

„Es war uns wichtig“, sagt Blumenstein, „sowohl Hamburger Aktive einzubinden, um auf die lokale Situation zu reagieren, als auch Externe einzuladen, mit einem Blick von außen auf das Thema zu reagieren.“

So etwas hört man gerne in der Hansestadt, ebenso wie das mit dem „Tor zur Welt“. Karl Lagerfeld spöttelte einst, dass Hamburg wohl tatsächlich das Tor zur Welt sei, aber um in die Welt zu gelangen, müsse man dieses Tor eben auch hinter sich lassen.

Um diesen fiesen Unterton weiß die Ausstellung natürlich: „Wohin führt das Tor zur Welt?“, begrüßt der Startbildschirm der „The Gate“-App. „Inspiriert vom bekannten Imageslogan der Hansestadt zeigt,The Gate’, wie sich Hamburgs Selbstbild in seinem jüngsten Stadtteil widerspiegelt.“ Man wolle „herausfinden, wie sich Menschen und gebaute Umwelt gegenseitig beeinflussen und wie dieser Prozess in einer urbanen Identität mündet“.

Der Verweis aufs Stadtmarketing ist böse, aber dann wird ja auch ein Wunsch formuliert, die Sehnsucht, etwas herauszufinden – es geht darum, dass der Stadtraum die Menschen mit offenen Armen begrüßt, mit den Mitteln der Kunst.

Arbeiten mit Torcharakter

Viele der gezeigten Arbeiten bekommen durch ihre Platzierung echten Torcharakter. „The Gate ist ein Palast der Türen“, heißt es in der App. Dennis Rudolphs Installation „Das Portal“ an den Elbbrücken ist so eine Tür, Marc Bijls Skulpturenensemble „Escape to from Hafencity“ am Baumwall, Mark Wallingers Video „Threshold to the Kingdom“ in einem Container am ehemaligen Kreuzfahrtterminal. „Das Projekt soll auch in die Stadt hineinwirken“, beschreibt Blumenstein den der Gesellschaft zugewandten Ansatz. „Wir wollen nicht einfach nur öffentlich sichtbar werden, sondern verstehen, was es bedeutet, Kultur in den öffentlichen Raum zu tragen.“

Und was bedeutet es nun? In der App sind drei Themenfelder definiert, verknüpft mit verschiedenen Orten im Stadtteil: dem Lohsepark, dem Baakenhöft und dem Oberhafen. „Im Lohsepark geht es um die Frage, wie der Einzelne seine Bedürfnisse mit den Bedürfnissen von anderen im gemeinsam genutzten städtischen Raum verhandelt“, sagt Blumenstein. Der Park ist ein öffentlicher Ort, eingekeilt von Wohnbebauung, aber auch mit vier Kitas in der Nähe, die mangels eigener Spielplätze täglich hierher kommen; dazu Sportler:innen, Pas­san­t:in­nen auf dem Weg zur Hafencity-Universität, aber auch Be­su­che­r:in­nen des Gedenkorts Hannoverscher Bahnhof: Hier fuhren einst die Deportationszüge Richtung Osten los.

Kunstprojekt „The Gate“: Juni bis September 2021 in der Hamburger Hafencity. Mehr Informationen gibt es auf der Website.

„Wir wünschen uns, dass Besucher:in­nen ihre Aufmerksamkeit schärfen für die Fragen: Was heißt es, in der Stadt zu sein, sich in einer Stadt zu bewegen? Und so fragen wir uns am Beispiel der Hafencity, wie sich städtische Identität überhaupt herstellen lässt.“

Blumensteins Position als künstlerische Entwicklerin solch einer Identität ist im deutschsprachigen Raum einzigartig. Zwar gibt es immer wieder Programme für Kunst im öffentlichen Raum, viele Städte leisten sich einen kulturellen Überbau, aber das Kontinuierliche fehlt meist. „Es gibt sonst keine Stadt, die sagt: Wir wollen, dass man unsere Entwicklung kulturell begleitet!“ Man kann anerkennen, dass die Hafencity eine Position finanziert, die den Traum der Investorenarchitektur hinterfragt; die eine Irritation in den Raum stellt: Was wollt ihr eigentlich, abgesehen von Rendite? Selbst wenn die Antworten auf diese Frage ungemütlich sein können.

Liesel Burischs nun am Sandtorkai gezeigte Videoinstallation „HC20457“ etwa übernimmt die Drohnenperspektive typischer Stadtmarketing-Filme, nur um in dieser extrem formalisierten Ästhetik Ausbrüche ins Queere zu provozieren. Immerhin, wie hier Architektur, Arbeit und nichtmarkierte Körper zusammentreffen, das dürfte die Freun­d:in­nen dekorativer Kunst nachhaltig verstören.

Zu viel von allem

Immer häufiger kommen die Antworten von einer Seite, die wenig zu tun hat mit der gelackten Oberfläche, für die das Viertel steht. Ebenfalls in den Kasematten unter der Bahnlinie hat der brasilianische Künstler Marlon de Azambuja die Installation „The Cave“ realisiert, indem er den gesamten Raum mit Beton flutet. Rein optisch erinnert das an Schluff auf Höhlenboden, die Nähe zur tidebeeinflussten Elbe aber weckt auch die Vorstellung von Meeresschlick: Hier hat eine organisch anmutende Masse Besitz vom Raum ergriffen, und sie hat Verdrängtes mitgeschwemmt, die Erinnerung an die kolonialen Verbrechen etwa: Die „Askari-Reliefs“ werden zitiert, rassistische Nazi-Kunst, im Original im „Tansania-Park“ zu sehen, im Stadtteil Jenfeld.

Vielleicht ist „The Gate“ zu viel von allem. Vielleicht überfordert ei­ne:n das Durcheinander aus realem Kunsterlebnis und überladener App, vielleicht ist nicht immer zu verstehen: Sind wir gerade im Kunstführer? Einem Geschichtsabriss? Einem Podcast? Vielleicht wäre ein schnöder Audioguide, der von Exponat zu Exponat führt, die nut­ze­r:in­nen­freund­li­che­re Lösung gewesen.

Aber vielleicht macht ja auch genau das dieses seltsame Konstrukt Stadt aus, das Nebeneinander von Kritik und Affirmation, von Kunst, Entertainment, Journalismus, Literatur? Vielleicht hat Ellen Blumenstein mit diesem jedes Maß sprengenden Projekt tatsächlich die Hafencity neu markiert: als explizit urbanen Ort, der sich nicht innerhalb von ein paar Stunden erschließen lässt.

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