Der Befreier im Widerspruch

Der Verkünder, der Waldretter, der Wutbürger: Die Kunsthalle Kiel zeigt auf wenig Platz den ganzen Künstler Joseph Beuys, vom Foto über Postkarten zur Plastiktüte

Er ließ sich dann doch ohne Panzer aus der Akademie werfen: Beuys-Postkarte von 1973 Foto: Sönke Ehlert, VG Bild-Kunst, Bonn 2021/Kunsthalle Kiel

Von Frank Keil

Nach Kleve fahren und die Highlights der Beuys-Sammlung schauen? Oder nach Duisburg, nach Düsseldorf, nach Essen in den Zollverein? Auch das Museum am Krefelder Joseph-Beuys-Platz 1 würde sich anbieten – und noch weit mehr Orte ließen sich auflisten, die sich dem Mann widmen, den das Magazin Art unlängst „Befreier“ nannte; man kann ja langsam auch wieder reisen.

Wer es sich – vom Norden aus gesehen – etwas einfacher machen will, nimmt zu Beuys’Hundertstem den Regionalzug nach Kiel. Steigt in der dortigen Kunsthalle die geschwungenen Treppen hinauf in den ersten Stock, wo sich die Räume der Grafischen Sammlung des Hauses befinden, und besucht „Joseph Beuys – Kunst für alle“. Dafür hat es keiner Leihgeber bedurft, auch keine teuren und komplizierten Transporte waren nötig und zu organisieren: Die Verantwortlichen konnten schlicht ins Depot schauen und wurden fündig. Anfang der 1980er-Jahre nämlich kaufte der damalige Kunsthallenchef Jens Christian Jensen so einiges von Beuys; ausgestellt hatte er Beuys-Zeichnungen bereits 1971.

Das Besondere und Überzeugende: Zu sehen sind nun fast ausschließlich Multiples und Grafiken; Arbeiten verschiedener Gattungen, von der Fotografie über die Postkarte bis zur Plastiktüte, die seinerzeit in kleinerer bis größerer Auflage hergestellt und dann vertrieben wurden. Denn es sollte nicht nur jeder Mensch sein künstlerisches Potenzial entdecken und so weltgestaltend handeln; ein jeder und jede sollte sich auch Kunst kaufen und danach besitzen können.

Dabei war Beuys schon längst eine große Nummer, als die ausgestellten und vergleichsweise preiswerten Vielfachwerke entstanden: „Ende der 1960er-Jahre hatte der Galerist René Block Beuys-Werke für an die 100.000 D-Mark verkauft“, erzählt Annette Weisner, Leiterin der Grafischen Sammlung. „Er war damals neben Warhol und Rauschenberg einer der teuersten Künstler.“ Seine Arbeit „The pack (das Rudel)“ von 1969 etwa – 24 Schlitten, übrigens aus volkseigener DDR-Produktion, scheinen aus einem westdeutschen VW-Bus auszuschwärmen –, sei seinerzeit eines der teuersten Kunstwerke gewesen.

Aber der Mann mit Hut und in Anglerweste und Jeans konnte eben auch anders. Kronzeuge dafür ist zum Beispiel „Intuition“: ein kleiner Kasten ohne Deckel, schlichtes Holz, Maße 30 mal 21 mal 6 Zentimeter, den man sich an die Wand hängen oder auf den Tisch stellen konnte als Behältnis für was auch immer – auch um die Kunst in den Alltag eingehen zu lassen und umgekehrt. 1968 erstmalig produziert, Preis seinerzeit: acht D-Mark, jedes Stück handschriftlich signiert, datiert, aber nicht nummeriert. Offenbar ein Verkaufsschlager, 12.000 Exemplare sind am Ende unter die Leute gekommen; man konnte sich diese „Intuition“ einfach per Post bestellen. Zwischen 300 und 700 Euro muss man heute für so einen Kasten auf dem Kunstmarkt bezahlen, das ist schon eine ordentliche Preissteigerung.

Poster-Boy denkt nach

Die kleine, feine Ausstellung eröffnet mit einer wuchtigen Fotowand: 16 Bilder zeigen uns Beuys sozusagen als Poster-Boy, beim Nachdenken; im Schneidersitz; mit Mikrofon in der Hand; beim Kartoffelschälen und bei Tisch. Es sind gut komponierte Schwarz-Weiß-Fotografien, Auszüge einer Serie vom Filmemacher Werner Krüger – und durchweg zeigen sie Joseph Beuys, wie man ihn zu kennen glaubt.

Ein Aha-Bild auch das großformatige, gerahmte Foto vom 14. Dezember 1971, auf dem Beuys einen Wald fegt. „Es war seine erste umweltpolitische Aktion“, sagt Weisner. Am Rande eines Düsseldorfer Naherholungsgebiets brauchte ein örtlicher Tennisclub Platz, wollte entsprechend ein Stück Wald roden. Beuys rückte mit seinen ebenfalls besenbewehrten Studenten an, die Presse berichtete, die Geschichte sprach sich flugs herum, die Empörung war groß, die Rodung wurde abgesagt und Baum für Baum blieben stehen, worüber sich gleichfalls zu berichten lohnte. Mitgefegt hat damals auch Anselm Kiefer, Meisterschüler beim Meister.

Benefiz fürs Ferkeln

Aber das ist nur die halbe Erzählung, denn das Foto war zugleich Beuys’Beitrag für die 32-teilige „Franz-Josef-Strauß-Mappe“, eine Benefiz-Aktion für den Karikaturisten Rainer Hachfeld: Der hatte seinerzeit den bayrischen Politiker und innenpolitischen Hardliner mehrfach als kopulierendes Ferkel gezeichnet, was ihm eine Klage und entsprechende Kosten einbrachte – die Erlöse der 165 Exemplare der Strauß-Mappe, die auch Beiträge von K. P. Brehmer und Ernst Vol­land versammelte und 635 D-Mark kostete, sollten da helfen. Joseph Beuys hat seinerzeit seinen Beitrag, der ihn selbst zeigt, signiert mit – „Josef Strauß“.

Umgeben ist das nun von Auszügen aus seiner Zeichnungen-Mappe „Spur 1“: ein sorgsam in Filz gewickeltes Schwert mit abgebrochener Klinge, in einem signierten Messzylinder eine schöne rote Rose, so wie damals in Beuys’„Büro für Direkte Demokratie“ auf der Documenta 5 von 1972 jeden Morgen ein Messzylinder mit einer roten Rose bestückt wurde. Und an den Wänden diese so gekonnten und also leicht zu merkenden Beuys-Sätze, wie: „Ich bin gar kein Künstler. Es sei denn unter der Voraussetzung, dass wir uns alle als Künstler verstehen, dann bin ich wieder dabei.“

Schließlich die bekannte, wenn nicht berühmte Postkarten-Sammlung aus der Edition Klaus Staeck: ein Schwung Postkarten, die man sich damals noch reichlich schrieb; darunter auch die Karte mit der Beuys-Parole „Wer nicht denken will, fliegt raus“. Dabei auch das längst legendäre Foto, wie Beuys am 11. Oktober 1972, links und rechts von je einer Reihe Polizisten flankiert, aus der Düsseldorfer Akademie geworfen wird, handschriftlich überschrieben mit dem Slogan „Demokratie ist lustig“; Beuys soll vorher verkündet haben: „Und wenn sie mit Panzern kommen, ich bleibe.“

Doch von der lustigen Demokratie führt eben auch ein Weg ins Unlustige, ins Seltsame, ins Rechthaberische, ins auch Unangenehme, weil es den Sympathieträger, der Beuys dann doch immer ist, in ein anderes Licht setzt. Es ist eine Plastiktüte aus dem Jahr 1971: „So kann die Parteiendiktatur überwunden werden“ lautet der Titel, der einem verstörend aktuell vorkommt. Bedruckt ist die Tüte mit einer schematischen Ableitung, demnach ist der Parlamentarismus das absolute Böse und allein die Idee der direkten Demokratie mittels Volksbefragung das absolut Gute.

Es war nicht alles gut

Wie Beuys hier nebenbei den Begriff vom „schaffenden Volk“ benutzt, da kann einem schwummerig werden. Aber es hilft nichts, da liegt sie, diese Plastiktüte – 500 Stück die Auflage, die er verteilte, bestückt mit Informationsmaterial zu seiner Volksabstimmungs-Initiative, die allein selig machen sollte.

So hat man also den ganzen Beuys: in seiner Faszination, seiner Stringenz, auch seiner Widersprüchlichkeit, auf eine ganz einfache, ausschnitthafte Weise. Und möglicherweise reicht das ja für den Rest dieses ausgerufenen Beuys-Jahres. Vielleicht aber ist man doch ein wenig hungrig geworden, neugierig und will und wird weiterziehen zu einem anderen der vielen Beuys-Austragungsorte. Das wäre ja so verkehrt nicht.

„Joseph Beuys – Kunst für alle. Multiples und Grafiken aus der Sammlung“: bis 24. 10., Kunsthalle Kiel. Besuch nur geimpft, genesen oder getestet