New-Orleans-Album von Dawn Richard: Die zweite Linie feiert das Leben

Dawn Richard hat ein neues Album veröffentlicht. Es beamt Traditionen der afroamerikanischen Community in die Zukunft.

Dawn Richard sitzt in Federkostüm auf eingehülltem Sessel

Kommt ganz schön rum: Dawn Richard Foto: Alexander Le'Jo

Den Menschen eine afrofuturistische Welt nahezubringen fällt schwer, wenn sie nicht wissen, was der ‚Afro‘-Anteil daran ist. Auf meinem Album füllt ihn meine Mutter aus.“ So bringt die US-Elektronikproduzentin und Sängerin Dawn Richard das Thema ihres aktuellen, sechsten Soloalbums auf den Punkt. Besser gesagt: ein Thema. Denn „Second Line: An Electro Revival“, so der Titel, kann nicht auf einen einzigen Aspekt reduziert werden.

Dawn Richard: „Second Line: An Electro Revival“ (Merge/Cargo)

Neben ihrer Mutter spielt New Orleans eine Hauptrolle in den Songs. Schon der Titel ist eine Hommage an die Stadt, in der Dawn Richard geboren wurde, aufgewachsen ist und in der sie heute wieder teils lebt. „Second Line“ bezieht sich unter anderem auf eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht.

Damals erlaubten die Kolonialmächte, zunächst Spanien, dann Frankreich und später Großbritannien, in New Orleans versklavten Schwarzen Menschen, sonntags auf dem heutigen Congo Square gemeinsam Musik zu spielen und zu tanzen. Traditionen aus Europa und Westafrika flossen bei diesen Zusammenkünften ein, die zu Paraden mit Musik, Kostümen und Tänzen wurden und die auch bei Begräbnissen durch die Straßen zogen.

Zur Beerdigung tanzen

Mit dem Aufkommen von Jazz, Ende des 19. Jahrhunderts, bekamen diese Beerdigungen auch die Bezeichnung „Jazz Funerals“. Bei Paraden – egal zu welchem Anlass – folgt auf die Band der vorderen Reihe die „second line“, eine Gruppe Tanzender. Hier spielen zwei Drums springende Rhythmen, die unter anderem auf dem Tresillo aufbauen, einem Rhythmus, der noch heute bei Reggaeton und Dancehall Kernelement ist. Das Spiel der Drums wird auch „second lining“ genannt und inspirierte Ende der 1960er Jahre unter anderem lokale Soul- und Funkbands wie The Meters zu ihrem charakteristischen Breakbeat.

Teil von Dawn Richards Songs sind zudem Ausschnitte von Aufnahmen ihrer Mutter. Sie spricht darin über New Orleans, über die Liebe und darüber, wie sie eine Frau aus Louisiana beschreiben würde. „I’m a creole girl“, sagt die Mutter an einer Stelle. Damit ist sie Vorbild für die künstlerische Figur auf dem Cover des Albums: King Creole. „Creole“ bezeichnet – als eine von verschiedenen möglichen Bedeutungen – Menschen, die in Louisiana geboren wurden, unabhängig von Hautfarbe und Herkunft der Vorfahr:Innen.

Beim Namen „King Creole“ kommen Erinnerungen an den gleichnamigen Film mit Elvis Presley von 1958 (deutscher Titel „Mein Leben ist der Rhythmus“) auf. In dem Musical-Drama spielt Elvis einen hoffnungslosen Schüler, der zum Star des Nachtclubs „King Creole“ in New Orleans wird. Damit wurde ein prägendes popkulturelles Bild von King Creole geschaffen, das auch ein Abbild der Segregation in den USA der 1950er Jahre ist: Danny, der von Presley gespielt wird, performt mit einer Band, bestehend aus weißen Musikern vor weißem Publikum.

Non-binärer King Creole

Dawn Richards King Creole ist eine Umdeutung dieser populären Figur. „King Creole ist nicht-binär. Sie kann weiblich sein, männlich oder etwas anderes. Sie ist Mensch und Android. Sie ist das neue Ideal eines Wesens, das Kunst schafft und damit das Ende der alten Vorstellung vom Mainstream-Künstler.“ Das dominante Bild dieses Künstlers ist heute nach wie vor weiß und männlich, auch wenn sich das allmählich zu ändern scheint. „In der elektronischen Musik bekommen weiße Männer am meisten Aufmerksamkeit“, glaubt Richard. „Schwarze Menschen, besonders schwarze Frauen, werden oft übersehen. Es gibt zwar Kaytranada, Thundercat, Flying Lotus und so weiter. Aber wenn man als schwarze Frau in diesem Feld arbeitet, gilt man als ‚Alternative-R&B-Künstlerin‘, weil Leute nicht begreifen, dass man elektronische Musik macht. Es ist ein ewiger Kampf, zu zeigen, dass es uns gibt.“

Bis heute vertritt Dawn Richard die Rolle als Elektronikproduzentin mit Nachdruck. „Ich hoffe, dass ich eines Tages nicht mehr betonen muss, dass ich eine schwarze Künstlerin bin, die elektronische Musik macht“, erklärt sie. „Aber bis dahin ist es wichtig. Man muss es Menschen einhämmern, bis es selbstverständlich wird – dann können wir die Bezeichnungen weglassen und einfach sein, wer wir sind.“ So unnachgiebig diese Worte klingen, Dawn Richard strahlt Gelassenheit aus, wenn sie dies ausspricht.

Mit Anfang 20 wurde sie Teil der vom New Yorker HipHop-Produzenten Sean „P Diddy“ Combs gecasteten Band Danity Kane und zum Popstar. Das war 2005, im gleichen Jahr als der Hurrikan „Katrina“ New Orleans und die Existenzen vieler seiner Ein­woh­ne­r:Innen zerstörte. „Meine Karriere hat begonnen, als ich meine Stadt verloren habe“, sagt sie. Nach der Auflösung von Danity Kane, 2009, arbeitete Richard als Teil des Songwriting-Teams Diddy-Dirty Money weiter mit Combs. 2013 startete sie ihre Solokarriere mit dem Album „Goldenheart“, das auf ihrem eigenen Label Our Dawn Entertainment erschien.

Selbstbestimmter Karriereweg

Es war der Anfang ihres selbstbestimmten Weges. Vom Popstar über die R&B-Künstlerin entwickelte sie sich zur Elektronikproduzentin, die mit verschiedenen Formen von Footwork über Dubstep bis Electronica experimentiert und unter anderem mit der US-Indieband Dirty Projectors zusammengearbeitet hat. Selbst­er­mächtigung ist auch in den Songtexten auf „Second Line: An Electro Revival“ ein bestimmendes Motiv. In den Tracks geht es aber weniger explizit um gesellschaftspolitische Fragen und Benachteiligung in der Musikindustrie. Richard stellt zwar hin und wieder ihre Überlegenheit gegenüber Kon­kurrent:Innen heraus. Überwiegend aber singt sie über Liebe und Sex, fordert selbstbewusst Nähe, das Feiern körperlicher Lust, auch als Teil von Musikkultur.

Auf „Second Line: An Electro Revival“ klingt Bounce als Klangsignatur an, eine schnelle, in New Orleans gängige Rap-Variante, die mit Call-and-Response-Schemen an Mardi Gras, die lokale Ausprägung des Karnevals, anknüpft. Auch Brassbands sind Teil des Albums, wenn auch kein offensichtlicher: Statt Klänge solcher Arrangements von Bläsern einzubringen, hat Richard versucht, deren musikalische Strukturen in elektronische Musik zu übersetzen. Als weitere Anknüpfungspunkte nennt sie zudem Downbeat wie von Portishead, Funk wie von George Clinton und Bassmusik aus Großbritannien.

Geschickt aufgefächert

Richards Musik ist geschickt arrangiert, oft beginnt ein Track mit schnellen, von House inspirierten Elementen und fächert den Sound dann stilistisch weiter auf. Als Vorbild nennt Richard auch Larry Heard, eine der prägenden Figuren von Chicago House. „Seine Tracks fühlen sich manchmal nach Trance an und atmen zugleich Jazz und Soul. Manche denken, dass elektronische Musik nur Dance Music ist, aber sie kann viel mehr. Deshalb habe ich mein Projekt auch ‚Electro Revival‘ genannt. Es geht um elektronische Musik und um ein Revival im Sinn einer neuen Blüte. Es ist wie ein Soul Movement. Ich will zeigen, dass beides zusammenkommen kann und ich finde, Künstler wie Larry Heard beweisen das.“

Auf ihrem neuen Album gelingt es Dawn Richard, sich in Traditionslinien zu stellen und gleichzeitig von den Normen abzuweichen. Das Streben nach Veränderung, nach der Auflösung von Kategorien zum unbeschriebenen Sein, charakterisiert die Kunst von Dawn Richard. Bei ihr steht King Creole auf den Trümmern eines postapokalyptischen New Orleans und weist in eine Zukunft, in der Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Mann und Frau aufgelöst sind. „Sie vereint all diese verschiedenen Dinge und führt Wesen an, die keine Zuschreibungen mehr wie beispielsweise race haben. Aber die Wahrheit ist, dass es nicht perfekt sein wird“, betont Richard.

„Ich mag das Perfekte nicht. Ich will das Verletzte, Verbrannte. Weil ich es erlebt habe. Ich habe auf dem Boden geschlafen. Ich habe harte Sachen gesehen. Also muss ich es glaubwürdig vermitteln. Aber ich erkenne auch Schönheit und wie Menschen zusammen Neues erschaffen können. Also sieht man im postapokalyptischen New Orleans zwischen den Trümmern und Betonruinen Bäume und Pflanzen wachsen – und damit neue Schönheit, die aus dem Kaputten entsteht.“

„Second Line“ ist auch in diesem Sinn mehr als nur ein Albumtitel. Seine Botschaft lautet: Wir machen weiter. Als „Feier des Lebens“ bezeichnet Dawn Richard eine „Second Line“. Die tanzenden Menschen können als Widerstand gegen einen lähmenden Tod gesehen werden, als Widerstand gegen bedrängende Lebensumstände. „Wenn Leute dieses Album hören, können wir eine Second Line um die ganze Welt bilden“, sagt sie. „Alle können Teil dieser Bewegung werden und sich gesehen fühlen.“

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