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Das libysche Geschäft mit den Migranten

In Libyen wird nicht mehr gekämpft. Daher müssen sich die Milizen nun neue Einkommensquellen sichern

„Man verleiht sie zu Zwangs­arbeit oder erpresst ihre Verwandten in der Heimat mit Foltervideos“

Taher Zaroog, Journalist in Misrata

Aus Tunis Mirco Keilberth

In den vergangenen Wochen haben von der westlibyschen Küste so viele Boote wie zuletzt 2015 abgelegt. Doch zwischen libyschen und italienischen Marine-und Küstenwache-Einheiten herrscht Funkstille.

Am Sonntag vor einer Woche war der Italiener Guiseppe Giacalone, Kapitän eines Trawlers, nach einer dreistündigen Verfolgungsjagd mit dem libyschen Patrouillenboot „Ubari“ verletzt worden. Die italienischen Fischer berichten von gezielten Salven und Einschusslöchern auf ihrem angeblich in libyschen Hoheitsgewässern entdeckten Schiff.

In einem Interview mit der taz wiegelt der Kommandeur der libyschen Küstenwache im „Bereich Mitte“ ab, man habe nur Warnschüsse abgegeben. Rund 6.000 Männer hat General Rida Issa entlang seines 400 Kilometer langen Küstenabschnitts zur Verfügung. Doch weil Nato-Flugzeuge im Libyenkrieg 2011 die Schiffe der Küstenwache versenkten, ist Issa auf Hilfe aus Europa angewiesen. Von sechs Patrouillenbooten, die Italien geliefert hat, sind derzeit drei im Einsatz, drei andere in Wartung.

Auf die Kritik an seinen Marinesoldaten reagiert der 66-jährige Issa gereizt. „Unsere europäischen Partner lassen leider die Benzinschmuggler, die illegal in libyschen Gewässern aktiven Fischer und alle möglichen Schmugglergeschäfte in Ruhe. Von uns erwarten sie jedoch, in der auf 70 Meilen erweiterten libyschen Rettungszone jedes Schlauchboot ausfindig zu machen“, empört er sich im Interview. „Die Lösung ist eine gemeinsame Marinemission aller Mittelmeerainerstaaten.“

Der Journalist Taher Zaroog lebt ebenso wie Rida Issa in der Hafenstadt Misrata, seit dem Aufstand gegen Gaddafi die militärisch stärkste Stadt Libyens. Milizen aus Misrata haben Gaddafi gestürzt, dann die Kämpfer des „Islamischen Staates“ und später die Söldnertruppe des aufständischen ostlibyschen Generals Khalifa Haftars vor Tripolis besiegt. „All diese Milizen verdienen mit Migranten Geld“, erklärt Zaroog. „Man verleiht sie zu Zwangsarbeit oder bringt ihre Verwandten in der Heimat mit Foltervideos dazu, sie aus den Foltergefängnissen freizukaufen.“

Im Krieg um die Hauptstadt Tripolis 2019 und 2020 hatten die Milizen aus Misrata Seite an Seite mit radikalen Gruppen und Menschenhändlern Haftars Söldnertruppe vertrieben und damit die Regierung in Tripolis gerettet. Nach Kriegsende bleiben die üppigen Zahlungen aus der Kriegskasse der Regierung an die Milizen aus – und nun hat Libyen eine neue Regierung, hervorgegangen aus politischen Verhandlungen. „Nun wenden sich die von der neuen Regierung nicht anerkannten Gruppen wieder den Migranten als Einnahmequelle zu“, beobachtet Zaroog.

Manon Radost vom Libya Advisor Forum, einem Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen, bestätigt, das sich die Lage für MigrantInnen in Libyen seit Anfang des Jahres dramatisch verschlechtert hat. Mitte Januar seien plötzlich auch diejenigen von der Straße oder aus ihren Wohnungen entführt worden, die Arbeit und Papiere des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hatten, berichtet die Französin. Laut UNO leben derzeit über 571.000 MigrantInnen aus 43 Ländern in Libyen. Radosta sagt, dass rund 5.000 Migranten in offiziellen Gefängnissen einsitzen.

Wer kann, flieht über die tunesische Grenze nach Zarzis und versucht dort, zusammen mit tunesischen Arbeitslosen einen Platz auf einem Fischerboot zu ergattern. Oft führt der Weg direkt in ein am Strand bereitstehendes Schlauchboot der Menschenhändler. Neun Boote hat die libysche Küstenwache seit Sonntag aufgebracht und 700 Menschen zurückgebracht. „Ein Teufelskreis, viele sitzen bald wieder in einem Boot“, prophezeit der Journalist Zaroog.

An die offiziellen Zahlen der Geretteten und Toten glaubt Zaroog nicht. „Niemand weiß, wie viele Schlauchboote in dieser riesigen Rettungszone sinken, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.“